Chapeau! Preis für die beste Theoriearbeit

22. Juni 2023

Mit dem Chapeau! Preis prämiert die Hochschule Luzern – Design Film Kunst herausragende schriftliche Abschlussarbeiten. Chapeau! soll sichtbar werden lassen und würdigen, wie in den schriftlichen Arbeiten neue Modelle der Verbindung von Theorie und Praxis entwickelt werden. Modelle, die einen anderen Weg nehmen als universitär-wissenschaftliche Arbeiten und die im Sinne einer eigenen Praxistheorie der spezifischen Kreativität der Ausbildungsgänge in Design, Film und Kunst gerecht werden. Manche dieser Arbeiten sind Seismographen für zukünftige Themen und Forschungsfelder. Chapeau! bedeutet in diesem Sinn ein deutliches Mehr als das Erfüllen von Standards. Es werden zwei Preise verliehen aus dem Bachelor- und Masterbereich, die über den Standard hinausgehen und vor der wir den Hut ziehen.

Gewinner:innen des Chapeau! Preis für die beste Theoriearbeit 2023 sind Marvin Mata und Mathola Wittmer, herzliche Gratulation!

Die Nominierten

Marvin Mata: INTERFACE – Videoessay mit Dossier (BA Video)

Was bedeutet es, auf die eigene Vergangenheit zu blicken und dabei sich selbst als Person zu entdecken, die man nicht mehr ist? Wie spiegle ich mich, buchstäblich und metaphorisch, in den Seherfahrungen meiner Kindheit? Und wo finde ich Zuflucht, wenn jene Filme, die mir immer auch Heimat waren, nicht mehr so ausschauen, wie einst? 

Spielerisch und persönlich, brilliant virtuos und vorsichtig nachdenklich untersucht Marvin Mata in seinem Videoessay INTERFACE den Zusammenhang zwischen gemeinsamer Filmerfahrung und individueller Erinnerung. Er entwickelt dabei, scheinbar nebenher, eine ganze Theoriediskussion zu Ethik und Ästhetik des Dokumentarfilms und zum Verhältnis zwischen fiktionalem und dokumentarischem Erzählen. Und er scheut sich nicht, dabei immer auch zu zeigen, wie sehr diese scheinbar abstrakten Fragen, ganz konkret mit uns, mit unseren eigenen Familien und deren Geschichten verbunden sind. So wird sein Videoessay auch zu einer Entdeckungsreise, in der jedes Detail wichtig ist und auch bei uns andauernd Erinnerungen anstösst und verschiebt.

Filme können ein Ort der Gemeinschaft sein, an denen wir zur Ruhe kommen. Filme können uns und unseren Blick aber auch infizieren, so dass wir nie mehr so sind, wie wir waren. 
– Text: Johannes Binotto

Mathola Wittmer: Zwischenglieder. Objekte in performativen Settings (MA Kunst)

Mathola Wittmers Masterarbeit ‘Zwischenglieder. Objekte in performativen Settings’ ist ein Fächer künstlerischer Selbstverortung, der genauso zurückblickt und einordnet, wie er Nährboden für zukünftiges Schaffen sein kann. Die Sammlung ist  umfangreich, zusammengehalten durch Matholas eigene künstlerischen Interessen am Genre der Performance, dessen fortlaufende gestalterische Expansion sie mittels eines von ihr entwickelten Vokabulars zu ordnen versucht. 

Besonders erfrischend und originell sind nicht nur die, von den etablierten Kategorien abweichenden Begriffsschöpfungen wie z.B. ‘Mischwesen’ oder ‘Installaction’, mit denen sie ihre analytischen Beobachtungen fasst. Auch mit dem Gestaltungsmittel des Fächers ist ihr eine äusserst passende Umsetzung der mit der Sammlung verbundenen Absicht gelungen: die Zusammenstellung enthält keine Hierarchie, ist vielmehr eine bislang latent vorhandene und nun an die Oberfläche geholte Sammlung von künstlerischen Versatzstücken, denen dadurch Respekt gezollt und deren subjektive Aneignung in den sehr lesenswerten Kurztexten nachvollziehbar gemacht wird. Mathola beweist in ihrem Schreiben Witz, Eigenwilligkeit, Originalität und Präzision, die das Lesen der kurzen Kommentare auch für Dritte anregend und inspirierend machen. – Text: Rachel Mader

Charlotte Mayland: Einbahn (BA Illustration Fiction)

Charlotte Mayland hat sich in ihrer schriftlichen Abschlussarbeit einem Ort gewidmet, der gewöhnlicher kaum sein könnte: Dem Berner Hauptbahnhof. Sie nähert sich diesem architektonischen Palimpsest aber auf höchst eigenwillige Weise an. In einer Anordnung von Tagen, die keiner Chronologie folgen, durchschreitet sie das Berner Bahnhofsgebäude nicht nur von A nach B, sondern untersucht auch dessen Innenleben und historischen Verbindungslinien. 

Ihre Hilfsmittel sind die gründliche Recherche und der Mut, die Dinge so nebeneinanderzustellen, wie es die herkömmliche Ordnung nicht vorhergesehen hat. Damit setzt Mayland künstlerisch um, was sie theoretisch auffächert: Dass der Diskurs von Ordnung und Macht auch ein Diskurs der Sprache ist. 

Die politische Brisanz des Textes zeigt sich in den Fragen, wer unter dem schutzversprechenden Baldachin willkommen ist, wessen Reise reibungslos verläuft, und wer weitergeleitet wird, nach Basel oder nach anderswo, jetzt und in anderen Zeiten. Charlotte Mayland schürft in den politischen Untiefen der Gegenwart, etwa, wenn es um Überwachungskameras geht, und zeichnet die historischen Linien nach, hin zur Rolle der Bahn in Kriegszeiten, und lässt den aktuellen Satz der SBB-Pressesprecherin in neuem Licht erscheinen: «Wir machen nicht Politik, wir fahren Zug.» 

Von entschlossener Eleganz sind auch die motivischen Parallelen, die zwischen Schaufenstern, Unterhaltung und der Zeit geknüpft werden. Der spezifische Blick der Autorin vermag Schalk und Tiefsinn zu vereinen und legt die soziologischen, politischen und emotionalen Aspekte des hundskommunen Berner Hauptbahnhofs frei. 

Stil- und effektsicher wird die Sprache eingesetzt, so auch die seltenen persönlichen Kommentare der Autorin, die ihre Wirkung entfalten, so dass ohne jede Erklärung deutlich wird: An Bahnhöfen geht es – und ging schon immer – um Menschen. Davon zeugt auch der fulminante Schluss, der nebst allen anderen auch die literarische Qualität dieses Textes nochmals eindrücklich unter Beweis stellt.
– Text: Tabea Steiner

Patricia Kindler: Materialgerechtigkeit im Anthropozän. Wie Designschaffende auf die wachsende anthropogene Masse reagieren können. (BA Objektdesign) 

Neuere Forschungsergebnisse des Weizmann Instituts zeigen die prekäre Zunahme der globalen anthropogenen Masse gegenüber der biologischen Masse innerhalb des letzten Jahrhunderts auf. Die Masse aller von Menschen geschaffenen Artefakte übersteigt in ihrer Summe bereits die Masse alles Natürlichen auf der Erde. Da Designer*innen zu dieser unumkehrbaren Entwicklung häufig beitragen, untersucht Patricia Kindler in ihrer Bachelor-Arbeit verschiedene Theorieansätze, wie mit Materialien, insbesondere keramischen Werkstoffen, verantwortungsvoll und nachhaltig umgegangen werden kann. Als ein Ansatz hierfür gilt bislang das Konzept «Cradle to Cradle», demzufolge Materialien für eine konsequente Kreislaufwirtschaft entweder in biologischen oder technischen Kreisläufen zirkulieren und somit zugleich Ressourcen- wie auch Abfallprobleme gelöst würden. Die kritische Hinterfragung des Konzepts zeigt jedoch, dass dies für Keramik niemals restlos aufgehen kann; denn durch den Tonbrand verwandelt sich die biologische Masse unwiderruflich in anthropogene Masse, die sich nicht mehr in den biologischen Kreislauf rückführen lässt. Die genuine Leistung von Patricia besteht darin, verschiedene designrelevante Theorieansätze und aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse in Beziehung zueinander zu setzen: Sie greift die Forschung des Weizmann Instituts produktiv auf und überdenkt anhand von zahlreichen praktischen Beispielen die Machbarkeit von «Cradle to Cradle», «Urban Mining» sowie Re- und Upcycling im Bereich der Keramik. Vor diesem Hintergrund interpretiert sie den inzwischen historischen Begriff der klassischen Moderne, die sog. «Materialgerechtigkeit», zeitgemäss neu und leitet daraus für ihr praktisch-gestalterisches Projekt entsprechende Schlussfolgerungen ab: Sanitärkeramikscherben werden zum Rohmaterial für Neues. Neben dieser konsequenten Verbindung von Theorie und Praxis ermutigt die Arbeit – über den speziellen Anwendungsfall hinausgehend – zur Reflexion über den nachhaltigen Umgang mit Materialien jenseits etablierter Lösungsansätze.
– Text: Dagmar Steffen

Jamilah Joseph: Swiss BIOways: A new close-loop circular business model based on a bio- economy system (BA Design Management International)

Jamilah’s addresses the consumption and waste culture of young professionals in the textile industry. Through interviews with experts and primary textiles users she identified that there are limited recycling facilities and infrastructure for managing pre-consumer waste in Switzerland. A challenge related to this is the material choices designers and manufacturers make.

In co-design sessions with textile users and experts, Jamilah envisioned how to leverage the use of biodegradable fabrics to transform waste into valuable feed­stock for upcycling or composting. She designed Swiss BIO-ways: a circular bio-economy business model. The idea is to manage pre-consumer textile waste designed for the biological cycle by using two complementary waste streams. Textile waste that is biobased, biodegradable; and Agri-waste derived from wheat straw. Biological cycle textile waste and wheat Agri-waste are both cellulose fibres, and can be converted into an upcycled yarn. In addition, composting is a suitable downcycling option for managing biomass. Wheat straw and biodegradable textiles can become compost through the decomposition of organic matter.

Biomass can lead to valuable products in a circular economy. Jamila’s project shows that biodegradable pre-consumer textile waste can be managed in Switzerland through an innovative system and infrastructure. It is her hope that this project will facilitate meaningful discussions about bio-economy and waste utilisation.
– Text: Guillermina Noël

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