Hut ab vor diesen schriftlichen Abschlussarbeiten
Am Schluss des Studiums an der Hochschule Luzern – Design Film Kunst steht etwas da: ein Produkt, ein Film, ein Kunstwerk. Etwas, das sich an der Werkschau ausstellen und vielleicht sogar anfassen lässt. Von den Denkprozessen, die zu dieser Manifestation geführt haben, sind oftmals nur noch Spuren da. Auf diese Spuren richtet der Preis Chapeau! sein Augenmerk.
Neben der Arbeit mit den Medien und Methoden ihrer jeweiligen Disziplin setzen sich die Studierenden in den Theorie-Modulen und in ihrer schriftlichen Abschlussarbeit mit der Reflexion auseinander, der Reflexion über Kunst und Design, Film, Kultur, Medien, Literatur und Philosophie. Im Mittelpunkt steht dabei grundsätzlich die Frage, wie theoretische und wissenschaftliche Konzepte in die gestalterische und künstlerische Praxis einfliessen und sich dort allenfalls verändern.
2020 prämierte die Hochschule Luzern – Design Film Kunst mit dem Preis Chapeau! zum ersten Mal herausragende schriftliche Abschlussarbeiten. Chapeau! soll sichtbar werden lassen und würdigen, wie in den schriftlichen Arbeiten neue Modelle der Verbindung von Theorie und Praxis entwickelt werden. Modelle, die einen anderen Weg nehmen als universitär-wissenschaftliche Arbeiten und die im Sinne einer eigenen Praxistheorie der spezifischen Kreativität der Ausbildungsgänge in Design, Film und Kunst gerecht werden. Manche dieser Arbeiten sind Seismographen für zukünftige Themen und Forschungsfelder. Chapeau! bedeutet in diesem Sinn ein deutliches Mehr als das Erfüllen von Standards. Es wird ein Preis von je CHF 500 für eine Arbeit aus dem Bachelor und eine Masterarbeit verliehen, die über den Standard hinausgehen und vor der wir den Hut ziehen wollen.
Der Preis Chapeau! geht 2022 an Camille Fröhlich (Bachelor Illustration Fiction) und Léon Hüsler (Bachelor Video). Herzliche Gratulation!
Die fünf Nominierten
Martin Dušek: Foster better conversations between city developers and residents (Master Service Design)
Wie können in partizipativen Planungsprozessen Bürger, Entwicklungsexperten, Verbände, Investoren und andere Akteure besser zusammenarbeiten? Martin Dušek geht in seiner Masterarbeit davon aus, dass dialogische Interaktionen hierfür eine entscheidende Voraussetzung sind und dass darüber hinaus die Umstände, unter denen diese Interaktionen stattfinden, stark die Qualität der Zusammenarbeit bestimmen. Um diese Annahme zu erkunden, analysierte der Autor mittels des «Conversation OS Canvas» von Stillmann den Planungsprozess des Projekts Luzern Nord. Die Masterarbeit resultierte in Verbesserungsvorschlägen für Planungsprozesse und einer Adaption des Canvas für den Kontext der Stadtentwicklung. Auf diese Weise bereichert die Studie das junge Feld des Konversationsdesigns und leistet einen praktischen und theoretischen Beitrag zum globalen Diskurs über Partizipation in der Stadtplanung. – Text: Hans Kaspar Hugentobler
Patrick Blank, In the space of longing. A High School Book (mit Photographie Essay) (Master Fine Arts / Art in Public Spheres)
Patrick Blank legt als Masterarbeit ein grosses Essay vor, das auch als künstlerische Forschung gelesen werden kann, in dem es sich mit der fotografischen Praxis verbindet. Seine Originalität besteht darin, dass es sich der Fotografie als Praxis nicht in erster Linie bildtheoretisch nähert, sondern psychosozial und philosophisch die Sehnsucht als Motiv hinter den Bildern auslotet. Damit beschreibt es die Arbeit des Fotografen als Agenten der Sehnsucht. Die Sehnsucht richtet sich darin einerseits auf Unbestimmtes, andrerseits auf die konkrete Möglichkeit von Begegnungen über den Akt der Porträtfotografie. Gleichzeitig ist sie als Bildwirkung namenlos vorhanden in den Fotografien, die als Vorarbeit des Essays im Fotobuch «in the space of longing» zum Essay gehören. Die Chiffre der Begegnung wird dabei zerlegt in einzelne «Absichten», zuletzt aber wird sie doch eingekreist im Momentum der Fotografie selbst: indem, was sich «zeigt» von einer Person und in dem, was der Fotograf als «Affekt» davon behalten kann, ein immer schon verschobener Moment zwischen Blick und Klick? Konsequenterweise führt das Essay hier weiter: erstens zur Selbstreflexion im Selfie und zu den Mechanismen des Sich-Zeigens, das immer auch ein Sich-Verbergen ist.
– Text: Silvia Henke
Camille Fröhlich, Eine ganz natürliche Sache (BA Illustration Fiction)
Camille Fröhlich geht in ihrem Essay an ein Thema heran, das persönlicher und zugleich politischer kaum sein könnte: Mutter werden. In eleganter Linie und auf überraschende und eigenwillige Weise stellt sie Verbindungen her zwischen Moral, Religion und Ratgebern für werdende und junge Mütter und zeigt damit, auf wie vielen Ebenen gesellschaftlicher Druck ausgeübt wird. Beigezogene Literatur – von de Beauvoir über Liv Strömquist und Tanja Dückers bis hin zu Insta-Influencerinnen – wird mit privaten Erlebnissen und Erinnerungen verknüpft, wodurch die eigenen Bezüge der Autorin zur Realität, aber auch zu soziologischen Gegebenheiten aufgezeigt werden. Camille Fröhlich gelingt es, eine Fülle an Theorien, Erleben, Lektüren mit einem transgenerationalen Ansatz zu verbinden, sodass deutlich wird, wie vielschichtig die (vermeintlich) sozialen Anforderungen an junge Mütter sind. Und es ist ihr gelungen, den Fokus auf ihren Gegenstand zu richten und gleichzeitig eine maximale Offenheit im Denken beizubehalten, und dies alles mit einem gewieften Umgang mit der Sprache.
– Text: Tabea Steiner
Morgane Frund, Out of the Blue Videoessay mit Dossier (BA Video)
Wie soll man mit Filmmaterial arbeiten, das giftig ist? Wie verhindern, dass wir den Sexismus, den wir in Blick nehmen müssen, dabei nicht unabsichtlich weiter reproduzieren? Morgane Frund findet in diesem Videoessay über die Gewalt des männlichen Blicks Wege, dem aggressiven Raster der fremden Bilder ihre eigenen, eigenwilligen Blicklinien entgegenzusetzen. Virtuos verknotet sich in diesen Linien theoretische Überlegung und persönliches Erleben, visuelle Abstraktion und gedankliche Präzision. Das ist schmerzhaft, schonungslos und behutsam zugleich und eine Entdeckungsreise nicht zuletzt in unsere eigenen Ambivalenzen. Morgane erweitert damit nicht nur die Möglichkeiten, was eine Abschlussarbeit sein kann, sondern auch, was das Format Videoessay zu leisten im Stand wäre: Ein Bild- und Denkliniengeflecht auslegen, in dem wir uns unweigerlich auch selbst verheddern. Darum nämlich, weil wir erkennen müssen, dass wir in seinen Themen immer schon verstrickt waren. – Text: Johannes Binotto
Léon Huesler … and then a couple of close-ups. Zum Verhältnis von Filmform und Ideologie (BA Video)
So bescheiden der Titel daher kommt, so unbescheiden ist, was hier passiert: die vielleicht grundlegendste aller medienwissenschaftlichen Fragen, nämlich wie Ästhetik und Ideologie zusammenhängen, wird mit einer fast überwältigenden Fülle an Querverweisen und Bezügen auf Filme und Theorie-Diskussion vor uns aufgefächert, in eleganter Sprache und voller blitzenden Gedanken. Auch beweist diese Arbeit, warum wir Fussnoten immer lesen sollten, weil sie nämlich nicht etwa überflüssiges Kleingedrucktes, sondern Schatzkarten sind: In den Fussnoten von Léon Huesler stossen wir auf lauter Links zu Videoessays und Videonotizen, die er im Verlauf seiner Recherchen gemacht hat und die zusammen nichts weniger sind als ein regelrechtes Seminar in Filmästhetik. Es ist, als kriegte man hier nicht nur eine, sondern gleich ein Dutzend Abschlussarbeiten geschenkt. Es ist das, was man eine Summa nennt. – Text: Johannes Binotto
Hans Stricker,
Grossartige Arbeit von Patrick Blank im Sinne eines Gesamtkunstwerkes: Das Gefühl der Sehnsucht dreidimensional umgesetzt.