Researcher’s Cut: Wie ein Video-Format Lehre und Forschung aufmischt

29. März 2021

Wer sich ins Kino setzt, gibt die Kontrolle ab. Wie kaum ein anderes Medium fordert ein Kinofilm die unverhandelbare Aufmerksamkeit des Publikums. In einer Ausstellung können wir immerhin herumgehen. Ein Buch können wir auch mal ablegen – ohne dass sich das Buch von selbst weiterliest. Ein Film dagegen läuft von Anfang bis Ende, während sich unsere Aufgabe auf das Stillsitzen und Zuschauen beschränkt. Arthouse-Filmhäuser brüsten sich gar damit, Filme ohne Pause zu zeigen. Der Zeitablauf des Filmes – durch den Regisseur oder die Regisseurin fein justiert – soll schliesslich nicht gestört werden.

Der Medienwissenschaftler Johannes Binotto führt uns in seinem «Practices of Viewing I – F.FWD» vor Augen, wie sich die Zeit im Kino unserer Kontrolle entzieht. Und auch, wie sich das Publikum seine Freiheit seit der Ankunft von VHS-Kassetten und der Fernbedienung schrittweise wieder zurückerobert. Binotto tut dies aber nicht etwa in einem wissenschaftlichen Artikel oder einem Kongressbeitrag. Nein, «F.FWD» ist selbst einen Film. Ein Film, der in den Zeitablauf von Kinofilmen eingreift. Eine Szene aus Jacques Tatis Playtime läuft schneller und schneller, bis sie zu einem zitternden Standbild gefriert. Was Binotto zu erklären versucht, veranschaulicht er direkt in seiner Arbeit. In der Form eines Videoessays.

Theoretische Arbeiten über Filme haben das ganz praktische Problem, dass sie Szenen umständlich beschreiben müssen. Videoessays umgehen dies, indem sie selbst in das Gewand eines Filmes schlüpfen. Filmstellen werden nicht zitiert, sondern direkt eingebunden. So war schon Jean-Luc Godard der Überzeugung, dass die beste Analyse eines Films selbst wieder ein Film sein müsste. Doch das ist nicht der einzige Trick, den Videoessays auf Lager haben. Binotto vergleicht die Methode mit einem Chemielabor, in dem Elemente gemischt werden und daraus neue entstehen. Auf die gleiche Weise stossen die Forschenden auf ganz neue Einsichten, wenn sie fremdes audiovisuelles Material nehmen, bearbeiten, schneiden und einander gegenüberstellen. Ein vergleichbares Vorgehen kennen wir von Kunstschaffenden, die Videos aus Found Footage neu kombinieren. Und unter dem Begriff der Collage hat es das Neu-Zusammensetzen längst bis in den Zeichen- und Werkunterricht der Primar- und Mittelschule geschafft. Bei den Filmen dauerte es aus technischen Gründen etwas länger. Das Schneiden und Verarbeiten eines Filmes erforderte noch lange kostspielige Hard- und Software. Heute haben wir alle bereits mit unseren Smartphones sämtliche Möglichkeiten in der Tasche, selber Filme schneiden. 

Videoessays sind ein neues Werkzeug im Toolset der Wissenschaft und brechen dabei mit den etablierten Gepflogenheiten der Academia. Wissenschaftszirkel gelten als eher geschlossen. Nur eine kleine Fachgruppe ist in der Lage, die Texte überhaupt zu verstehen. Noch ausgeprägter ist die Abgeschlossenheit in der Ausbildung an der Hochschule oder Universität. Fertig geschriebene Seminararbeiten landen in der Regel nur auf dem Pult der Dozierenden und dann auf Nimmerwiedersehen in der Schublade. Auch hier sieht Binotto eine Chance für das neue Format, verbreiten sich doch Videos im Netz mit Leichtigkeit. Zum Beispiel auf Twitter, wo die Studierenden-Arbeiten, die bei ihm im Theorieunterricht an der Hochschule Luzern entstanden sind, überschwängliche Reaktionen zur Folge haben.

Die Videoessays von HSLU-Studierenden stossen im Netz auf Anklang.

Videoessays sind wie gemacht fürs Internet. Wobei ihre Kürze und Prägnanz nicht darüber hinwegtäuschen darf, wie viel Arbeit hinter jedem einzelnen Essay steht. Wohl mehr noch als in einer schriftlichen Arbeit, erklärt Binotto, denn jedes Video ist nur das sichtbare Kondensat eines aufwändigen Prozesses, von der Lektüre, der Recherche, dem Nachdenken, der Konzteptualisierung bis hin zu Beschaffung des Filmmaterials, der Vertonung, des Schneidens und der Veröffentlichung. Das braucht Zeit und die Fähigkeit, über den Rand der eigenen wissenschaftlichen Disziplin hinauszuschauen und sich nur mit Filmgeschichte und -theorie, sondern auch Produktion, Schnitt und Ton auseinanderzusetzen. Entsprechend divers ist die Community, die sich mit Videoessays auseinandersetzt. Bei Binotto selbst lässt sich seine Begeisterung für audiovisuelle Medien bis in seine Kindheit zurückverfolgen. Als «Videokassettenkind» begann er früh damit, Filme auf VHS-Tapes zu sammeln. Mit der Kamera fotografierte seine liebsten Szenen vom TV-Bildschirm ab. Einen anderen Weg, an Standbilder aus den Filmen heranzukommen, gab es für ihn nicht.

Heute lehrt Binotto an der Hochschule Luzern im Bachelor Video und am Englisch Department der Universität Zürich. Das Thema Videoessay bearbeitet er seit Anfang 2021 zusammen mit einem illustren Forschungsteam: Chloé Galibert-Laîné, Oswald Iten, Silvia Henke Dean, Oswald Iten und Florian Krautkrämer von der Hochschule, sowie Elisabeth Bronfen, Barbara Straumann und Jialu Zhu von der Universität Zürich. Das Projekt «Video Essay. Futures of Audiovisual Research and Teaching» wird durch den Schweizerischen Nationalfonds SNF mit CHF 600’000 unterstützt. Eine beeindruckende Summe, vor allem wenn man bedenkt, dass es sich hier um ein Projekt handelt, dass die klassischen Kategorien und Disziplinen des Wissenschaftsbetriebs überschreitet. Hier beginnen Forschende zugleich auch wie Künstler zu arbeiten, zu experimentieren. Und Binotto erinnert daran: Wissenschaft bestand schon immer nicht aus dem Spiel nach Regeln, sondern aus dem Hacking. Fortschritt passiert nicht da, wo wir wiederholen, was wir schon wissen. Sondern da, wo wir uns auf den Versuch einlassen – eben auf den Essay.

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Text: Christian Schnellmann

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