Markenkiller Plattform-Ökonomie? Brandmanagement in Zeiten des preisgetriebenen E-Commerce

Markenkiller Plattform-Ökonomie? Brandmanagement in Zeiten des preisgetriebenen E-Commerce

Die wirklich systemverändernden Revolutionen geschehen nicht mit dem einen grossen Knall. Im Gegenteil: Systemverändernde Revolutionen nagen Tag für Tag an bestehenden Mustern und Gewohnheiten, untergraben, durchlöchern nicht sichtbar Fundamente bis zu dem Moment, an dem ein Symbol der «alten Ordnung» scheinbar ganz plötzlich zusammenbricht – öffentlichkeitswirksam. Das gilt für Kulturen, politische Systeme, aber auch Unternehmen und ihre Leistungen. Seit gut 15 Jahren prognostiziert die Wissenschaft das Ende der Warenmärkte, wie wir sie kennen: Digitalisierung ist das inzwischen viel zu oft beschworene Stichwort. Dabei werden in der Regel vier entscheidende Faktoren der digitalen Märkte hervorgehoben:

  • Hohe Informationsgeschwindigkeit: «Always on»
  • Erweiterte Möglichkeiten der Informationsbeschaffung
  • Partizipation: «Die neue Macht der Kunden»
  • Netzwerkkommunikation/Reichweite

Keine Frage, die Ladenzeilen der Städte werden immer leerer. Der «kleine Laden» in der Nachbarschaft ist schon zur Sehenswürdigkeit für die zugezogenen Hipster geworden: «Schau mal, das ist noch ein richtig alter Laden…» Sogar die scheinbar unerschütterlichen Einkaufszentren und Shopping-Malls müssen sich neuartige «Experience-Konzepte» überlegen, damit der Leerstand auf so mancher Etage nicht allzu offensichtlich wird.

In Hinblick auf die Veränderung der Einkaufskultur sind sich Wissenschaftler, Führungskräfte und Kunden einig: E-Commerce sells! In der Zeit von 2008 bis 2018 wuchs der Wert des Versand- und Onlinehandels in der Schweiz von 4,65 Milliarden CHF auf 9,5 Milliarden Franken (GfK: Online- und Versandhandelsmarkt Schweiz 2018, S. 8). In Deutschland 2009 bis 2019 explodierte der Wert des Online-Handels von 30 Milliarden Euro auf 72.2 Milliarden Euro (bevh; Statistisches Bundesamt; HDE: Online- und Versandhandel, 2019).

Eine Marke ist eine Marke – analog wie digital

Vor einem strategischen Hintergrund wird die Frage entscheidend, wie sich Marken angesichts dieser unumkehrbaren Markt-Disruption verhalten. Durchaus verbreitet ist der Ansatz «abzuwarten» mit der Prämisse, seine Kundschaft zu erziehen. Die Kraft der Marke wird es schon richten. Es gibt genug Beispiele dieser «Management-Ignoranz» auf anderen Ebenen: Nokia wird gerne als Exempel herangezogen. Aber gerade die europäische, allen voran die deutsche Autoindustrie stellt nach Jahren des Desinteresses fest, dass sich Märkte und Gewohnheiten verändern können – auch wenn de facto der Markt der Elektroautos weiterhin marginal ist (in der Schweiz betrug er 2018 nur 0,42%), siehe: Bundesamt für Strassen: Strassenfahrzeugbestand MFZ, 2019)

. Der zweite Ansatz ist, sich vollständig anzupassen, die alte Marke an die neuen digitalen Kanäle anzugleichen und damit genau die Aspekte zu löschen, die die Leistung in Zeiten des Kommunikationsgewitters erkennbar machen, also die eigentlichen Gründe für den Kauf liefern. Plötzlich entstehen zwei Marken, eine digitale und eine analoge und in der Folge auch zwei Kundschaften, die die analoge Marken noch älter aussehen lassen als zuvor, obwohl das Gegenteil intendiert war.

Fluch und Segen der Plattform-Ökonomie

Es wird also deutlich, dass der Vertriebskanal ebenso ein Markenbestandteil ist wie beispielsweise die Forschung & Entwicklung oder die Produktion. Frei nach dem Kommunikationstheoretiker Marshall McLuhan, der einst formulierte: «The medium is the message», müsste es heute heissen: «The channel is the message.» Und genau hier liegt die strategische Herausforderung der Markenführung.

Denn inzwischen wird deutlich, dass der Online-Vertrieb eben nicht einfach ein Online-Vertrieb ist, sondern – ganz im Sinne des Akkumulationsgesetzes – sich jedes Jahr stärker auf ausgegliederten Plattformen abspielt: Egal ob Autoscout24.ch, Immobilienscout.ch, ricordo.ch oder booking.com – der Anteil der Vertriebsplattformen wächst kontinuierlich und beständig. Beispielsweise entfallen 26% aller gebuchten Übernachtungen in Europa auf die Online-Plattformen booking.com. Dabei entfällt wiederum ein Großteil der Plattform-Buchungen auf einen bzw. zwei Anbieter (Booking.com mit ca. 66% und Expedia.com bereits weit abgeschlagen mit 17%). Dieses Bild liesse sich auf nahezu jede Branche anwenden.

Ruinöse Abverkäufe

Der Vertrieb über Online-Plattformen wird als zeitgemässer und bequemer Weg der Marktdurchdringung angesehen: Preise lassen sich unmittelbar «anpassen» (das heißt im Normalfall reduzieren) und damit die Sichtbarkeit erhöhen. Im Gegenzug verdienen die Plattformen über die auskömmlichen Verkaufs-Provisionen und Anzeigen ihrer Zulieferer – ohne selbst irgendwelche Formen des realen Risikos und der Verantwortung einzugehen. Diese tragen allein die Leistungserbringer für ihre Mitarbeitenden, Kunden und im Gegensatz zu den Steuervermeidungsoptionen der New Economy sogar für ihre Gesellschaft (dies macht das öffentlichkeitswirksam inszenierte soziale Engagement der New Economy sehr fragwürdig). Bei näherer Betrachtung ist dieser Zustand ärgerlich, aber in Wirklichkeit noch viel vernichtender: Plattformen sind in ihrer Struktur darauf ausgelegt, eine Preisspirale nach unten zu systematisieren. Ihr grundlegender Algorithmus beabsichtigt, das beste Angebot zum billigsten Preis prominent in Szene zu setzen. Warum? Ganz simpel: Weil es sich am schnellsten verkauft. Da aber immer mehr Unternehmen die Plattform situativ nutzen, um Überhänge oder Kapazitäten in den Markt zu drücken, sinkt das durchschnittliche Preisniveau stetig und in aller Regel sofort. Früher nannte man dieses Verhalten «Ware versenken» mit dem Unterschied, dass die Wahrscheinlichkeit, dass alle Kunden von einem besonderen Angebot in einem fernen Discounter erfuhren, relativ gering war. Die Kundschaft lernt die immer niedrigere Preiskultur allerdings dauerhaft und kein Unternehmen der Welt ist in der Lage, die «gefühlt richtigen» Preise erneut in eine gesunde Relation zu rücken. Die Anbieter hoffen auf die uneingeschränkte Unterstützung (Marktmacht) der Plattformen, sodass sich der Kunde für ihre Angebote entscheidet. Dieses Hoffen ist sehr teuer (bis ruinös) für den eigentlichen Leistungserbringer.

Der entscheidende Treiber der Plattform ist also die auf den Preis gerichtete Aufmerksamkeit. Einen Aspekt muss eine Plattform dagegen vehement ausschliessen: Die Kraft einer Marke in den Fokus zu rücken. Im Gegenteil: Jede Plattform muss eine Leistung zu einer Commodity, zu einem Allerweltsprodukt, zu einem No-Name machen. Denn wenn der Zweck der Plattform das günstigste Angebot ist (neben anderen, aber viel unwichtigeren Faktoren), dann ist der Zweck einer Marke, sich dem Preiskampf und dem Wettbewerb zu entziehen, indem sie ihre Preiskultur durchsetzt. Es besteht demnach ein struktureller Zielkonflikt.

Beurteilungen der Kunden werden zum Druckmittel der Plattformen gegenüber den Unternehmen

Klar ist: Die heutigen Plattformen erschaffen keinen Wert; sie schöpfen ihn nur ab. Den Plattformen ist es gelungen, sich als diejenigen zu verkaufen, die viel Nutzen für wenig Geld anbieten, ohne selbst irgendeine der angebotenen Leistungen zu erbringen (was dem Kunden aber völlig egal ist). Der Kunde fragt nicht danach, wie der Nutzwert zu ihm kommt; ihn interessiert nur und durchaus nachvollziehbar, dass er den Nutzwert (möglichst billig) erhält. Dass schliesslich die Beurteilungen der Kunden dafür eingesetzt werden, den Leistungserbringer im Sinne immer höherer Erwartungshaltungen zu erziehen, da die schlechte Beurteilung automatisch zu einem schlechteren Ranking führt (das so manches Mal wieder als Anzeige erkauft werden muss), macht die listige Konzeption der Plattformen umso deutlicher.

Es wird ersichtlich, dass die Plattformen zwar kurzfristig ein Mittel sind, um ökonomische Durststrecken zu überwinden, aber extreme Risiken beinhalten. Es empfiehlt sich also, den Vertriebskanal Plattform bei einer langfristig orientierten Wertschöpfungsstrategie vor allem dosiert zu bespielen. Ein absolutes Ignorieren wäre allerdings fatal.

Content is king

Die einzige Möglichkeit dem Automatismus der «digitalen Angebotsschütte» zu entgehen, bleibt allerdings die spezifischen Erwartungsmuster einer Marke zu betonen und zu verfestigen. Auch und gerade im Internet. Dies gelingt allerdings nur, wenn die Marke sich nicht versucht über eine imageorientierte, d.h. oberflächliche Differenzierung zu positionieren, sondern Content liefert, der die kulturell verankerten Gewohnheitsmuster weiter verstärkt und entwickelt.

Der Markt befindet sich insoweit in einer totalen Umbruchsphase, wobei die Content-Inhaber, da sie am wenigsten vermehrbar sind, die großen Gewinner dieses Prozesses sein werden. Denn trotz aller Preisorientierung ist es – konsumpsychologisch betrachtet – zunächst das latente Bedürfnis, das einen Kaufimpuls auslöst: Uns gefällt eine Leistung. Erst im zweiten Schritt prüfen wir, ob diese Leistung unserem Wertempfinden entspricht. Damit aber überhaupt eine unterscheidbare Vorstellung «über ein Produkt» existiert, gilt zunächst klare Leistungserwartungen in den Köpfen der Menschen zu verankern.

Nie waren Vorurteile so wertvoll wie in Zeiten des unendlichen digitalen Angebotes.

Kommentare

1 Kommentare

Wiktorowicz

14. November 2020

Ein toller Beitrag Dr. Errichiello! Er hat mir eine faszinierende Sichtweise ermöglicht und mein zukünftiges Handeln für mein Geschäft geprägt.

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