Datenverarbeitung und die Gesellschaft – Big Data stärkt und schwächt Solidargemeinschaften

Datenverarbeitung und die Gesellschaft – Big Data stärkt und schwächt Solidargemeinschaften

Den Sozialversicherungen stehen immer mehr Daten über die Versicherten zur Verfügung. Die Daten dienen dazu, Risikozusammenhänge zu identifizieren, Betrug aufzudecken oder Abrechnungen zu kontrollieren. In jedem Fall muss offengelegt werden, woher die Daten stammen und wozu sie genutzt werden.

    In Kürze

  • Den Sozialversicherungen stehen viele Datenquellen zur Verfügung: eigene Datenbanken, solche von Drittorganisationen, aber auch die sozialen Medien
  • Big Data legt auch Risikozusammenhänge offen, die absurd erscheinen können
  • Fraglich ist, wie weit individuelle Prämien und Leistungen zulässig sind

Die Entwicklung ist in hohem Masse zweischneidig: Einerseits verkörpern persönliche Daten ein enormes wissenschaftliches, wirtschaftliches und gesellschaftliches Potenzial. Andererseits kann die Nutzung persönlicher Daten sehr rasch in die Privatsphäre von Menschen eingreifen und wichtige Persönlichkeitsrechte verletzen.

Big Data – grosser Nutzen und grosse Vorbehalte

Die Ambivalenz von Big Data zeigt sich auch in den Sozialversicherungen. Big-Data-Technologien können Solidargemeinschaften stärken, indem sie versteckte Risiken aufdecken. Ein besonders spektakuläres Beispiel ist der Fall Vioxx. Durch die systematische Analyse von Krankenkassenabrechnungen konnte ein amerikanischer Krankenversicherer einen Zusammenhang zwischen dem als Superaspirin angepriesenen Schmerzmittel Vioxx und dem Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko seiner Versicherten nachweisen. Das Medikament wurde daraufhin zurückgezogen. In anderen Fällen helfen Data-Mining-Verfahren, Risikoverhalten und Gefahrenherde zu identifizieren und geeignete Präventionsmassnahmen zu definieren. Immer häufiger kommen Big-Data-Technologien als elektronische Fahnder bei der Aufdeckung von Versicherungsbetrug oder bei der grossflächigen Kontrolle von Arzt- und Spitalrechnungen zum Einsatz.

Big-Data-Technologien können Solidargemeinschaften aber auch schwächen. Die rasant wachsende Menge an öffentlich verfügbaren Daten über Personen und die immer leistungsfähigeren Analysemethoden bieten die Möglichkeit, risikorelevantes Verhalten von Einzelpersonen und Gruppen zu beobachten und entsprechende Risikoprofile anzulegen. Damit wächst die Versuchung, solche Informationen für differenzierte Beitrags- und Leistungsmodelle zu nutzen. Das Solidaritätsprinzip gerät unter Druck.

Bestimmt Datenverarbeitung, was Solidarität ist?

Voraussetzung war bisher, dass zwischen individuellem Fehlverhalten und dem Risikofall eine enge Ursache-Wirkung-Beziehung besteht.

Die Besonderheit von Big-Data-Analysen besteht darin, dass sie keine Ursache-Wirkung-Beziehungen aufdecken (Kausalbeziehungen), sondern blosse Risikozusammenhänge (Korrelationen) messen. So prognostiziert der britische Versicherer Aviva das Risiko von Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck oder Depression mit erstaunlicher Genauigkeit aus Daten über das Konsumverhalten, den Lebensstil und das Einkommen seiner Versicherten. Je mehr personenbezogene Daten verfügbar sind, umso grösser die Wahrscheinlichkeit, dass Risikozusammenhänge sichtbar werden.

Teilweise sind diese Risikozusammenhänge sehr komplex und nur schwer nachvollziehbar. Wie ist beispielsweise ein Analyseergebnis zu bewerten, das eine enge Korrelation zwischen einem spezifischen Krankheitsrisiko, dem Konsum einer bestimmten Biermarke und der bevorzugten Urlaubsdestination der Versicherten feststellt? Ein solches Ergebnis mag absurd erscheinen. Tatsache ist aber, dass auch scheinbar absurde Risikozusammenhänge eine hohe Prognosekraft besitzen können.

Welche Daten dürfen Sozialversicherungen nutzen?

Sozialversicherungen haben ein hohes ökonomisches Interesse an Informationen über risikorelevantes Verhalten ihrer Versicherten. Dabei stehen ihnen Daten zur Verfügung, die sie über Versicherte selbst anlegen oder über einen geregelten Informationsaustausch von Drittorganisationen erhalten. Darüber hinaus gibt es eine weitere Datenquelle, die immer bedeutender wird: Die von den Versicherten über soziale Medien und andere Plattformen selbst publizierten Daten. Aus Sicht der Sozialversicherungen stellt sich die Frage, ob freiwillig publizierte Daten genutzt werden dürfen, um Risikozusammenhänge zu analysieren und Risikoprofile anzureichern.

Die Frage ist delikater, als es auf den ersten Blick erscheint. Bei der Publikation persönlicher Daten können Individuen unmöglich abschätzen, in welchem Kontext oder zu welchem Zweck solche Daten in Zukunft verwendet werden. User auf Facebook müssen bei der Nutzung des Like-Button nicht ohne weiteres damit rechnen, dass sich aus ihren Likes mit erstaunlicher Präzision der ethnische Hintergrund, das Geschlecht, die sexuelle Orientierung, politische Einstellung und andere sensible Profilinformationen erschliessen lassen.*

Big Data erfordert einen Werterahmen

Die uneingeschränkte Nutzung publizierter Daten widerspricht grundlegenden forschungsethischen Prinzipien. In der Forschung setzt die Arbeit mit persönlichen Daten volle Transparenz bezüglich der Ziele und des Verwertungskontextes voraus. Zudem muss das Einverständnis der Probanden zur Datennutzung vorliegen. Ob dies auch für die Analyse von Social-Media-Daten (Twitter, Facebook usw.) zu Forschungszwecken gilt, ist nicht klar. Klar scheint hingegen, dass die Hürde für die Nutzung persönlicher Daten umso höher sein muss, je wahrscheinlicher Analysen für Datengeber auch negative Konsequenzen haben können. Die Anonymisierung von persönlichen Daten liefert noch keinen Freipass für eine uneingeschränkte Nutzung publizierter Daten. Auch anonymisierte Informationen können sensible Informationen offenlegen, zwar nicht über Einzelpersonen, aber über Gruppen. Der Schutz der Privatheit von Einzelnen und Gruppen muss abgewogen werden gegen die unbestreitbaren Vorteile von Big Data.

Es liegt an den Sozialversicherungen, die Nutzung dieser Technologie in einen Werterahmen zu stellen, der Solidargemeinschaften stärkt. Transparenz über die Ziele und den Einsatz von Big-Data-Technologien sind ein guter erster Schritt.

* Kosinski, M., Stillwell, D., & Graepel, T. (2013): «Private traits and attributes are pre­dictable from digital records of human beha­vior. Proceedings of the National Academy of Sciences», 110(15), 5802-5805.

Quelle: Brandenberg, Andreas (2017): «Datenverarbeitung und die Gesellschaft – Big Data stärkt und schwächt Solidargemeinschaften», in: Schweizer Sozialversicherung, 01(17).

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