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Flucht aus der Ukraine: Die Zwischenzeit bestehen

Flucht aus der Ukraine: Die Zwischenzeit bestehen
«...all over the world»: Die 19-jährige ukrainische Studentin Anastasia Filenko hat ihren Platz in der Hochschule Luzern – Informatik gefunden. Viele ihrer ukrainischen Freundinnen und Freunde sind in andere Länder geflüchtet – «überall auf der Welt».

Von Gabriela Bonin

Von Kiew nach Rotkreuz geflüchtet: Die ukrainische Studentin Anastasia Filenko studiert an der Hochschule Luzern – Informatik. Hier lebt sie im Frieden. Das Grauen vor den Schrecken in der Heimat sitzt ihr aber weiterhin im Nacken. Die 19-Jährige kämpft sich voran: voller Drang, Kummer und – Dankbarkeit.

Der Ernst des Lebens kam früh und jäh. Als russische Streitkräfte am 24. Februar 2022 ihren Heimatort Kiew angreifen, absolviert die 19-jährige Anastasia Filenko das vierte Semester in Angewandter Mathematik. Sie studiert an einer der führenden Hochschulen des Landes: an der Nationalen Universität Kiew-Mohyla-Akademie (NaUKMA).

Anastasia Filenko schreibt Bestnoten; das beschert ihr ein Stipendium; ihre Englischkenntnisse sind gut; sie hat bereits ein Praktikum absolviert – drei Faktoren, die ihr später den Weg ebnen werden. In einen Neustart, den sie bis dahin nie gewollt hat und schliesslich doch als Chance begreifen wird. Noch zweieinhalb weitere Studienjahre und sie würde in Kiew einen Bachelor in der Tasche haben.

Hier studierte Anastasia während zwei Jahren Angewandte Mathematik: Die Nationale Universität Kiew-Mohyla-Akademie ist die älteste Universität des Landes und laut Anastasia auch «die schönste Uni in Osteuropa» (Bildquelle: Wikipedia).
 

Wenige Tage später zerstören russische Raketen ein Wohnhaus in der Nachbarschaft von Anastasia Filenko. «Da wusste ich, dass ich fliehen muss», sagt sie. «Können wir das Foto dieser Ruine in deinem Blogbeitrag zeigen?» Ihre Frage ist ein Appell: «Die Lesenden da draussen, sie sollen sie sehen: diese ganze Zerstörung!»

«Die Lesenden sollen es sehen»: Russische Raketen treffen Häuser in Anastasias Nachbarschaft. (Bildquelle: A. Filenko)

Anastasias Blick ist offen, ernst, standhaft. Sie formuliert jeden ihrer Sätze bewusst, lacht nur dann, wenn es angebracht ist. Vielmehr hört sie aktiv zu, sagt auch mal Nein. «Ich habe in den letzten Monaten gelernt, Nein zu sagen.»

Ich habe gelernt, Nein zu sagen.

Flüchtling, Vertriebene: Diese Begriffe mag Anastasia nicht mit sich selbst in Verbindung bringen. Sie passen nicht zu ihr, der Tochter eines Architekten und einer Buchhalterin. «Ich und flüchten? Nein!» So denkt sie zu Beginn des Krieges.

Wochen später haust sie mit ihrer Mutter in einer Flüchtlingsunterkunft in Lemberg/Lwiw im Westen der Ukraine. Sie führt ihr Studium im Fernunterricht weiter, hofft zunächst noch, sie könne im Land ausharren. Anastasia macht sich in der Unterkunft nützlich, unterrichtet Kinder in Englisch. «Die Flüchtenden brauchen ein paar Brocken Englisch für ihre weitere Flucht», erklärt sie, «so können sie zumindest ihre Grundbedürfnisse äussern und sich besser durchschlagen.»

Denn mittlerweile geht es für Anastasia und ihre Landsleute vor allem darum: ihre Grundbedürfnisse zu sichern und ihr früheres Leben zurückzugewinnen.

Die Zusage kam innert Minuten. Es war unglaublich.

Anastasia will ihr normales Studentinnenleben zurückhaben. Solange dies in Kiew nicht möglich ist, muss sie es sich anderweitig erobern. In Lemberg ist kein Platz für sie. Sie bewirbt sich daher um einen Studienplatz irgendwo in Europa. Ihre ebenfalls geflüchteten Freunde und Freundinnen ergattern Zusagen aus Frankreich, Spanien, Portugal oder auch aus Kanada. Der Freundeskreis zersplittert sich ins Ausland.

Der Krieg in ihrem Heimatland hat sie in die Welt hinausgeschleudert: Anastasia (dritte von links) mit Freundinnen und Freunden in Kiew (Bildquelle: A. Filenko).

Mitten unter vielen Absagen erhält Anastasia ein interessiertes E-Mail von der Hochschule Luzern – Informatik (HSLU I). «Ich schrieb zwei, drei Mails an die HSLU. Dann erhielt ich innerhalb weniger Minuten eine Zusage. Es war unglaublich», erzählt sie.

Alles passt: auf der einen Seite Anastasias Qualifikationen, Sprachkenntnisse und Praktikumserfahrung, auf der anderen Seite eine Solidaritätswelle in der Schweiz, von der auch die Hochschuldirektion und viele Mitarbeitende erfasst sind.

Innert drei, vier Tagen ist alles gesichert. Das International Office der HSLU I offeriert Anastasia ein Komplettpaket für ein neues Studentinnenleben: einen vorderhand gebührenfreien Platz für sie als Gaststudentin, Hilfe beim Beantragen des Schutzstatus S und ein Dach über dem Kopf in der Nähe der Hochschule Luzern – Informatik. Angehörige einer HSLU-Mitarbeiterin haben sich als Gastfamilie anerboten.

An einem Sonntagmorgen führt Daniela Stoll, Co-Leiterin des International Office, ein Video-Gespräch mit Anastasia und deren Mutter. Anastasia soll möglichst rasch in die Schweiz geholt werden, weil das Frühlingssemester bereits fünf Wochen zuvor begonnen hat. «Nur so hatte sie die Chance, den bereits verpassten Stoff noch aufzuholen», sagt Daniela Stoll. Die Schweizer Gastmutter nimmt beim virtuellen Kennenlerngespräch auch gleich teil.

Die junge Studentin fragt als Erstes, ob diese Zusage real sei. Ja, kein Fake. Dann läuft alles so rasch, dass es «fast surreal» war, erzählt Daniela Stoll.

Fünf Tage später, am 1. April, holt Daniela Stoll Mutter und Tochter Filenko vom Bahnhof ab. Sie begleitet die beiden in ihr neues Zuhause bei der Gastfamilie. Anastasia tritt unverzüglich als Gaststudentin dem Bachelor-Studiengang International IT Management in Rotkreuz bei. Das ist ein schweizweit einzigartiger Bachelor-Studiengang mit Fokus auf interkulturelle und interdisziplinäre IT-Projekte.

Die Leute hier sind fantastisch. Ich kann ihnen nichts zurückgeben – ausser meinen Dank.

Obschon Anastasia die ersten fünf Semesterwochen verpasst hat, wird sie zu Semesterende alle Prüfungen bestehen. Sie stürzt sich mit aller Intensität in ihr neues Leben: Sie studiert, vertieft ihre Englischkenntnisse und lernt Deutsch. Sie organisiert mit anderen ukrainischen Geflüchteten Spendengelder und Hilfsaktionen für ihr Heimatland. Sie gibt online Englisch-Unterricht für ukrainische Kinder. Darüber hinaus arbeitet Anastasia ab Mitte Mai zu 40 Prozent als Software-Entwicklerin für ein lokales Unternehmen. Ein Mitarbeiter der HSLU I hat ihr diese Stelle vermittelt.

Das International Office stellt ihr zudem zwei Buddys zur Seite: einheimische Studierende der HSLU, die Anastasia helfen, sich auf dem Campus in Rotkreuz und im neuen Gastland zurechtzufinden. Sie unterstützen sie auch dabei, neue Kontakte zu knüpfen, nehmen sie mit in den Ausgang.

Anastasias Dankbarkeit für all die hilfreichen Menschen in ihrem neuen Schweizer Leben grenzt an Beklemmung: «Sie gaben mir sooo viel und ich kann ihnen nichts zurückgeben – ausser meinen Dank», sagt Anastasia, «diese Leute sind fantastisch». Sie spüre, dass sie hier als Mensch angenommen werde und nicht «nur» als Geflüchtete. Die Schweiz und die HSLU seien ihr mit grösster Solidarität und Hilfsbereitschaft begegnet.

In manchen Momenten lebt sie hier nun wie eine gewöhnliche Austauschstudentin, die es freiwillig in die Schweiz gezogen hat: Anastasia studiert mit Hingabe, ist begeistert vom praktischen Ansatz der HSLU. Sie geht abends aus, lernt jede Menge neue Leute kennen. Ja, sagt sie in einem Ton, als ob es ein Geständnis wäre, manchmal habe sie Spass und amüsiere sich.

Ich bete jeden Tag für meine Liebsten. Vielleicht sehe ich sie nie wieder?

Aber die Unbeschwertheit hält nie lange an: «Ich bin konstant in Sorge», sagt sie, «ich bete jeden Tag, dass mein Zuhause in Kiew noch steht und meine Eltern und Freunde noch leben. Vielleicht sehe ich sie nie wieder?» Ihre Mutter war nur die ersten Monate an Anastasias Seite. Sie reiste im Sommer zurück nach Kiew, weil ihre eigenen Eltern pflegebedürftig sind. Auch Anastasias Vater ist in der Ukraine. Er hat seine Arbeit aufgegeben und dient als Freiwilliger in der Armee.

Anastasia vermisst in der Schweiz ihre ukrainische Freundin Katherina. Hier sind die beiden in Kiew zu sehen (Bildquelle: A. Filenko).

Immer wieder plagt sie das schlechte Gewissen: «Ich bin hier in Sicherheit und habe alles, während meine Landsleute unter grössten Entbehrungen ums Überleben kämpfen.»

2’000 Kilometer von den Eltern entfernt muss Anastasia früh eigenständig werden. Sie lernt die Einsamkeit kennen. Ihre Liebsten fehlen ihr. «So hatte ich mir mein Leben nie vorgestellt», hält sie fest «es ist hart, echt hart.» Denn es seien nicht einfach irgendwelche Leute, die in ihrem Heimatland kämpfen und auch sterben: «Ich sage dir, das ist ganz wichtig: Es sind unsere Brüder und Väter, es sind Zivilisten – echte Menschen» betont sie. «Sie und wir alle mussten unser Leben komplett ändern».

Ein Bild aus alten Zeiten «Wir alle mussten unser Leben komplett ändern»: Anastasia (vierte von links) mit ihren Freundinnen und Freunden vor einer Beatles-Statue in Kiew (Bildquelle: A. Filenko).

Hier in Rotkreuz habe sie «wieder von ganz vorne angefangen». Sechs Monate sind seit diesem Neustart vergangen. In dieser kurzen Zeit hat Anastasia in der Schweiz alles erreicht, wovon freiwillige Austauschstudentinnen träumen. Sie habe hier «das Beste, worauf sie seit Kriegsbeginn hoffen konnte»: Sie hat ein Zuhause und neue Freundinnen und Freunde gefunden, ihr Englisch verbessert und ordentlich gut Deutsch gelernt. Sie vertieft ihr fachliches Know-how und hat einen festen Job.

Zudem hat sie mittlerweile alle Papiere und Stempel zusammen: Nach einem Anfang als Gaststudentin ist sie neuerdings als reguläre Studentin an der HSLU I immatrikuliert. Mit diesem Status kann sie Prüfungen ablegen und einen Studien-Abschluss erreichen. «Das garantiert ihr eine längerfristige Perspektive», so Daniela Stoll, «in zweieinhalb Jahren kann sie ein Bachelor-Diplom erreichen».

Wir werden die Ukraine wieder aufbauen. Unser Land wird noch stärker und echt cool werden.

Diese Perspektive ist es denn auch, die Anastasia antreibt: «Nach dem Krieg werden wir die Ukraine aus der Krise holen und wieder aufbauen. Unser Land wird noch stärker und echt cool werden.» Von dieser Vision ist sie beseelt: wie sie und ihre Freundinnen und Freunde mit neuem geballtem akademischem Wissen und interkultureller Erfahrung nach Hause zurückkehren werden, gereift und bereit, den Wiederaufbau in Angriff zu nehmen.

Denn nie zuvor in ihrem Leben, so erzählt sie, sei sie mit ihrem Volk so geeint gewesen, wie an jenem Tag X, der alles veränderte. Am 24. Februar hätten sich ihre Freunde, Freundinnen, ja das ganze Volk auf einen Schlag verbunden. Das habe sie sehr stark gespürt: «Wir halten zusammen.»

Diese Verbundenheit gibt ihr Kraft: «Ich stehe im ständigen Austausch mit meinen Landsleuten, telefonisch, online und vor Ort hier in der Schweiz. Wir sammeln Geld für die Ukraine; wir sind vernetzt.»

Daher will sie für diesen Beitrag auch nicht einfach bloss ein Interview geben, nur so zur Selbstdarstellung. Anastasia will vielmehr informieren und Spenden generieren. Sie bittet um einen Spendenaufruf. Auch das in der Tonlage eines Appells.

Spenden für ukrainische Studierende an der HSLU: Spenden Sie für Ukrainerinnen und Ukrainer wie Anastasia Filenko, die an der Hochschule Luzern studieren. Die Hilfen für die ukrainischen Flüchtlinge von Bund, Kantonen und Gemeinden decken nur das Allernötigste. ÖV-Abo, Laptop, Sprachkurs, Lunch-Budget und andere Unkosten, die mit dem Studium zusammenhängen, gehören nicht dazu. Spenden Sie hier via die HSLU Foundation. So helfen Sie jungen Menschen, eine schwere Zwischenzeit zu bestehen.

Hier sehen Sie einen Bericht des Schweizer Fernsehens SRF über das Departement Design & Kunst: Es hat 29 junge Ukrainerinnen aufgenommen – nicht als Geflüchtete, sondern als Austauschstudentinnen.

Das International Office der HSLU I bekommt seit Spätsommer 2022 wieder vermehrt Anfragen von ukrainischen Flüchtlingen. Es bearbeitet alle sorgfältig und bietet Möglichkeiten, wenn es Sinn macht.

Während des Interviews erinnert Anastasia Filenko nur einmal an Gleichaltrige, die keinen Krieg im Nacken haben: Als sie fürs Portrait-Foto lächelt und sich in Pose wirft. Da möchte man kurz glauben, ihre Welt sei instagrammable.

Anastasia am Bahnhof von Rotkreuz, vor dem Hochhaus der Hochschule Luzern – Informatik.

Veröffentlicht am 30. September 2022

Studium trotz Krieg – an der Hochschule Luzern HSLU: Die HSLU Foundation, eine Stiftung der Hochschule, bietet geflüchteten Studierenden aus der Ukraine Hilfe bei der Aufnahme eines Studiums.

Hochschule Luzern bildet und forscht: Die HSLU ist die Fachhochschule der sechs Zentralschweizer Kantone. Mit aktuell rund 8’300 Studierenden in der Ausbildung, über 5’200 Teilnehmenden an CAS-, DAS- und MAS-Programmen sowie 400 neuen Projekten in Forschung und Entwicklung ist sie die grösste Bildungsinstitution im Herzen der Schweiz.

International vernetzt: Exzellente Ausbildung und Forschung basieren auch auf Impulsen und Ideen von aussen. Es braucht Forschende und Studierende, die sich global austauschen.  Das International Office der die Hochschule Luzern – Informatik fördert diesen Austausch.

Bachelor in International IT Management am Departement Informatik: Die porträtierte Anastasia Filenko besucht diesen Bachelor-Studiengang. Darum geht’s in ihrem Studium: IT-Projekte werden immer komplexer und das zur Lösung benötigte Know-how ist zunehmend weltweit verteilt. Dieser Bachelor-Studiengang zielt auf diese künftigen Herausforderungen in einer digitalisierten Zukunft ab. Im Rahmen des Studiums erwerben Studierende die Fähigkeiten, in einer komplexen Situation und unter Berücksichtigung unterschiedlicher Kulturen anspruchsvolle Digitalisierungs- oder IT-Projekte zu initiieren, zu begleiten und erfolgreich abzuschliessen.

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