«Ambulant vor stationär» gilt sowohl in der medizinischen als auch in der Pflegeversorgung als kosteneffizient und patientenfreundlich. Doch wann kippt das System gar ins gegenteilige «stationär vor ambulant»? Eine kritisch-differenzierte Auseinandersetzung mit den Versorgungssystemen im Kontext der EFAS-Abstimmung.
Im aktuellen Abstimmungskampf zur einheitlichen Finanzierung ambulanter und stationärer Leistungen im Schweizer Gesundheitswesen (EFAS) geht es – wie so oft in der Politik – ums Geld. Zur Debatte steht die Aufteilung der Kosten zwischen Krankenkassen (Prämienzahler:innen) und Staat (Steuerzahler:innen). Ambulante Eingriffe werden momentan vollständig durch die obligatorische Krankenversicherung (OKP) gedeckt, während stationäre Eingriffe (wenn also Patientinnen und Patienten über Nacht im Spital bleiben) zu 45 Prozent von der Krankenkasse und zu 55 Prozent von den Kantonen und somit den Steuerzahlenden übernommen werden.
Aus Sicht der Krankenkassen lohnen sich ambulante Eingriffe häufig nicht, daher haben sie im aktuellen Finanzierungsregime kaum einen Anreiz, ambulante Eingriffe bei ihren Versicherten zu fördern. Dies obwohl sich gemäss Schweizerischem Gesundheitsobservatorium (Obsan) das Kostenverhältnis von stationären zu ambulanten Eingriffen auf etwa 4:1 beläuft! So kostete eine Kniearthroskopie im Jahr 2022 ambulant durchschnittlich 2’100 Franken, während der stationäre Eingriff mit rund 8’100 Franken zu Buche schlug.
Diese Zahlen untermauern die gesundheitspolitische Maxime «ambulant vor stationär». Dank medizinischer Fortschritte ist es heutzutage möglich, dass Patient:innen immer häufiger nach Eingriffen noch am gleichen Tag nach Hause gehen können. Dies ist nicht nur für das Gesundheitssystem kostensparend, sondern kommt auch dem Wunsch vieler Patient:innen nach, schnell wieder in ihrem gewohnten Umfeld zu sein.
Das Prinzip „ambulant vor stationär“ gilt nicht nur in der medizinischen Versorgung, sondern auch im Bereich der Langzeitpflege. Pflegebedürftige Menschen sollen so lange wie möglich in ihren eigenen vier Wänden verbleiben und dort ambulant betreut werden. Dieses Vorgehen zielt auf die Einsparung von Infrastrukturkosten und fördert das Wohlbefinden und die Selbstständigkeit der Betroffenen.
Doch dazu braucht es gut abgestimmte Betreuungs- und Pflegenetzwerke. Angehörige übernehmen oft zentrale Aufgaben. Meist erfolgt dies unbezahlt und überwiegend von Frauen. Diese freiwilligen Hilfssysteme geraten jedoch immer häufiger an ihre Belastungsgrenzen. Hinzu kommt, dass die Zahl der Ein-Personen-Haushalte steigt und pflegebedürftige Menschen ohne nahestehende Angehörige zunehmend auf professionelle Dienste angewiesen sind.
Bereits 2005 haben Höpflinger und Hugentobler in einem Obsan-Bericht auf die Grenzen der ambulanten Pflege hingewiesen, besonders bei Menschen mit komplexen oder chronischen Erkrankungen wie etwa Demenz. Die emotionale und körperliche Belastung für pflegende Angehörige ist hier besonders hoch. Es besteht die Gefahr, dass die Angehörigen selbst erkranken oder zu «hidden patients» werden. In solchen Fällen wird eine stationäre Pflege oft unumgänglich, um eine kontinuierliche und professionelle Betreuung zu gewährleisten.
Die Fragmentierung der ambulanten Pflege stellt eine weitere Herausforderung dar. Die dezentral organisierten Pflegedienste ermöglichen zwar Nähe und Flexibilität gegenüber den Pflegebedürftigen, führen aber auch zu regionalen Unterschieden und zu einer Zersplitterung der professionellen Kräfte. Besonders in Regionen mit unzureichendem Ausbau von Spitex-Organisationen droht eine Unterversorgung hochbetagter und schwerkranker Menschen. In solchen Situationen ist eine stationäre Pflege daher die bessere Wahl, da sie spezialisierte Versorgung für komplexe Pflegebedarfe bietet, die ambulante Dienste oder familiärer Beistand nicht immer abdecken können.
Das Konzept «ambulant vor stationär» wird wohl das Leitmotiv unseres Gesundheitswesens bleiben, nur schon aus Kostengründen. Doch behandeln wir vielleicht in einigen Bereichen des Versorgungssystems bereits zu viel ambulant? Sind die Bedürfnisse der Patient:innen ausreichend berücksichtigt? Wann ist eine stationäre Versorgung allenfalls von Beginn weg die bessere Option? Und welche Rollen spielen der Fachkräftemangel und der demographische Wandel bei der Beantwortung dieser Fragen?
Dies wollen wir am diesjährigen Luzerner Kongress Gesellschaftspolitik am 27. November 2024 an der Hochschule Luzern diskutieren. Der Fokus liegt dabei auf der Langzeitpflege und der ärztlichen Versorgung.
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