In immer mehr Gemeinden fehlen Hausärztinnen und Hausärzte. Die Gemeinden versuchen sich zu helfen. Sie investieren in den Umbau von Praxen oder in Inserate-Kampagnen und beteiligen sich auch an unternehmerischen Risiken. Versorgungsfragen rücken zunehmend in den Vordergrund. Und was macht das Bundesparlament in dieser Situation? Es fokussiert immer noch einseitig auf Kostendämpfungspakete. Diese Entkoppelung zwischen Versorgung und Kostendämpfung ist problematisch.
Manchmal lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit. 1994 publizierte der Bundesrat die Botschaft für das (damals) neue Krankenversicherungsgesetz, welches vom Volk angenommen wurde und 1996 in Kraft trat. Der Bundesrat formulierte damals drei Ziele:
Ziel 1: Die Solidarität verstärken.
Ziel 2: Eine qualitativ hochstehende Versorgung sicherstellen.
Ziel 3: Den Kostenanstieg dämpfen, primär mithilfe des regulierten Wettbewerbs.
Im Verlauf der Jahre wurden immer wieder Evaluationen durchgeführt mit folgendem Fazit:
Ziel 1: Solidarität, ok.
Ziel 2: Versorgung, ok.
Ziel 3: Kostendämpfung, nicht ok.
Wer die gesundheitspolitischen Debatten in Bern verfolgt, der hat Folgendes gelernt: Über Kosten reden können wir gut. Das Parlament diskutiert, korrigiert und verabschiedet ein Kostendämpfungspaket nach dem anderen. Zudem führte das Parlament seit 1996 zahlreiche Reformen durch (erste KVG-Revision, Neue Spitalfinanzierung, neue Pflegefinanzierung, verbesserter Risikoausgleich etc.). Betrachten Sie aber einmal die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen gemessen an den Bruttoleistungen pro Versicherten in der OKP (siehe nachfolgende Tabelle).
Alle bisherigen Reformen und Bemühungen des Parlaments scheinen kaum einen Einfluss auf die Kostenentwicklung zu haben.
Inzwischen kommt aber ein Thema auf uns zu, welches ganz offensichtlich noch nicht bis nach Bern vorgedrungen ist: Versorgungsfragen. Als Illustration gehen wir mal auf die Situation mit den Hausärztinnen und Hausärzten ein. Primär die Gemeinden kämpfen gegen den zunehmenden Mangel an. Schauen Sie sich doch einmal diese Landkarte der Schweiz an:
Quellen: BFS – MAS, STATPOP, STATENT, SOMED, HESTA; FMH – Ärztestatistik; SASIS AG – DP, TP, ZSR; BAG – MedReg / Auswertung Obsan. In: Jörg, R. & Haldimann, L. (2022). Regionale Unterschiede im Zugang zur medizinischen Versorgung. Methodik zur Analyse der Versorgungsdichte und Anwendung am Beispiel der Hausarztmedizin (Obsan Bericht 07/2022). Neuchâtel. © Obsan 2022
Wir haben regelrechte «Versorgungswüsten», was die Hausärztinnen und Hausärzte betrifft (z.B. im Mittelland zwischen Aargau und Luzern). Mit Ausnahme der Städte und zentrumsnahen Gebieten sieht die Situation nicht sehr gut aus. Die Zahlen basieren auf Daten von 2019. Die Situation dürfte sich in der Zwischenzeit nicht verbessert haben.
Der Autor war vor Kurzem eingeladen an eine Veranstaltung im Kanton Schwyz, die sich – auf kommunaler Ebene – mit der Frage beschäftigte, was die Gemeinden denn gegen fehlende Hausärztinnen und Hausärzte tun können. Es war faszinierend, mit welcher Kreativität und welchem Mut die Gemeinden versuchen, die Versorgung für ihre Bevölkerung sicherzustellen. Haben Sie gewusst, dass z.B. die Gemeinde Boltigen (BE) mit Plakaten nach Ärztinnen und Ärzten gesucht hat?
Leider vergeblich. Sie haben zwar einen Arzt gefunden. Dieser verfügte aber nicht über die nötigen Titel und ihm wurde nach nur drei Monaten die Bewilligung wieder entzogen. Die Gemeinde Sattel (SZ) geht einen anderen Weg: Sie beteiligt sich in einer Public Private Partnership mit zwei privaten Investoren am Bau einer neuen Arztpraxis und engagiert sich auch finanziell bei der Suche und Rekrutierung von Hausärztinnen und Hausärzten für Sattel. Ein kleines Gesundheitsversorgungszentrum ist im Aufbau. Bedauerlicherweise hat der erste Arzt nach nur eineinhalb Jahren bereits wieder gekündigt. Die Verantwortlichen sind aber zuversichtlich, was die Nachfolge betrifft. Die Gemeinde Sattel ist bereit, hier unternehmerische Risiken in Kauf zu nehmen.
Welches Zwischenfazit ziehen wir daraus? Nehmen wir wieder die drei Ziele von 1994 zur Hand, sie helfen bei der Orientierung. Ich glaube, wir können eine Entkoppelung in der Politik feststellen. Die nationale Politik ist immer noch geprägt vom einseitigen Kostenblick und fokussiert auf das Ziel 3: die Kostendämpfung. Das ist sicherlich berechtigt, sollte aber nicht zu einem Tunnelblick führen. Die Kantone und vor allem die Gemeinden kämpfen mit ersten Versorgungsproblemen. Und das ist neu für die Schweiz. Wir haben sehr viel Erfahrung mit der Kostenperspektive, aber bei Versorgungsthemen betreten wir Neuland. Wir werden uns mit Wartelisten, mit Versorgungsengpässen und Lücken im Personalbestand auseinandersetzen und Wege finden müssen, wie die Bevölkerung trotzdem bestmöglich versorgt werden kann. Gleichzeitig sind wir in Zentrumsgebieten immer noch mit Überversorgung konfrontiert. Heute muss man wahrscheinlich sagen:
Ziel 1: Solidarität, ok.
Ziel 2: Versorgung, nicht ok.
Ziel 3: Kostendämpfung, nicht ok.
Zur aktuellen Situation passt das Zitat von Paul Watzlawick: «Wer einen Hammer hat, für den wird jedes Problem zu einem Nagel». Das nationale Parlament hat nur das Krankenversicherungsgesetz, also wird jedes Problem zu einem Krankenversicherungs- bzw. Prämienproblem. Die Kantone und Gemeinden sind für die Versorgung zuständig. Es ist höchste Zeit, dass auch das nationale Parlament die Augen für Versorgungsfragen öffnet. Denn als Patientin oder Patient brauche ich am Ende jemanden, der sich um meine gesundheitlichen Probleme kümmert.
Die auf diesem Blog veröffentlichten Beiträge spiegeln die persönlichen Meinungen und Einschätzungen der Autor:innen wider und entsprechen nicht zwingend der offiziellen Haltung der Hochschule Luzern.
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