16. Dezember 2025

Forschung,

Gesundheitspolitik

Warum Gendermedizin relevant ist – und was das für die Praxis bedeutet

Warum Gendermedizin relevant ist – und was das für die Praxis bedeutet
Von Christine Beeler und Ines Junginger

Jede und jeder von uns wünscht sich bei Krankheit die bestmögliche Behandlung. Wenn Symptome falsch eingeordnet werden oder Therapien nicht an unterschiedliche Bedürfnisse angepasst sind, hat das direkte Auswirkungen. Gendermedizin macht sichtbar, dass Krankheiten sich bei verschiedenen Geschlechtern oft anders zeigen. Dennoch gelangen viele dieser Erkenntnisse erst spät in den Versorgungsalltag. Dieser Beitrag zeigt, warum Gendermedizin wichtig ist und welche Bedingungen nötig sind, damit sie im Alltag ankommt.

Gendermedizin, oder geschlechtersensible Medizin, untersucht, wie biologische Unterschiede (sex) und soziale sowie psychologische Faktoren (gender) Gesundheit, Krankheit und Therapie beeinflussen. Der Begriff wird bis heute häufig missverstanden und vorschnell mit Frauenmedizin oder anderen Diversitätsthemen verwechselt. Im Kern geht es jedoch darum, Unterschiede in sex und gender systematisch zu berücksichtigen, und zwar für alle Geschlechter und vielfältige geschlechtliche Identitäten. Die Wissenschaft geht davon aus, dass in Zukunft Medikamente und Behandlungen massgeschneidert und möglicherweise sogar abgestimmt auf das genetische Profil eines Individuums sein werden. Das Geschlecht wird dann nur ein Faktor von vielen sein. Bis dahin ist es jedoch zentral diesem Faktor Aufmerksamkeit zu schenken, denn entscheidend ist: Menschen erkranken unterschiedlich, zeigen andere Symptome und sprechen verschieden auf Therapien an. Genau das sollte sich in Diagnostik, Behandlung und Forschung widerspiegeln.

Warum ist Gendermedizin so wichtig?

Geschlechtersensible Medizin macht sichtbar, wie unterschiedlich Krankheitsbilder auftreten können und was passiert, wenn diese Unterschiede nicht berücksichtigt werden. Die folgenden Beispiele zeigen eindrücklich, dass es nicht nur um bessere Daten geht, sondern um konkrete Versorgung­ssituationen im Alltag.

Beispiele bei Frauen:

  • Herzinfarktsymptome werden anders eingeordnet: Viele Frauen erleben Beschwerden wie Übelkeit, ausgeprägte Müdigkeit, Atemnot oder Schmerzen im Rücken- und Nackenbereich. Weil diese Symptome im klinischen Alltag nicht immer sofort einem Herzinfarkt zugeordnet werden, erfolgt die Diagnose häufig später, was den Krankheitsverlauf beeinflussen kann.
  • Schmerzen werden unterschiedlich bewertet: Frauen berichten im Durchschnitt häufiger über starke oder chronische Schmerzen. Gleichzeitig werden diese Beschwerden häufiger psychologisch eingeordnet oder weniger konsequent somatisch abgeklärt, sodass belastende Symptome länger bestehen und Ursachen erst verzögert erkannt werden.

Beispiele bei Männern:

  • Essstörungen werden seltener erkannt: Obwohl Männer ebenso betroffen sein können, werden entsprechende Anzeichen im Alltag oft später wahrgenommen. Dadurch setzt die Behandlung häufig erst verzögert ein, was den Therapieerfolg erschweren kann.
  • Rheumatische Erkrankungen geraten weniger schnell in Betracht: Bestimmte rheumatische Krankheitsbilder werden bei Männern seltener frühzeitig abgeklärt, sodass Beschwerden länger fortbestehen und therapeutische Schritte erst später greifen.

Wieso braucht Gendermedizin mehr Aufmerksamkeit?

Die Relevanz zeigt sich unmittelbar: Es geht um Gesundheit, Lebensqualität und manchmal ums Überleben. Gendermedizin hat aber auch eine gesellschaftliche und wirtschaftliche Dimension. Die Analyse «Closing the Women’s Health Gap» von McKinsey bringt es auf den Punkt: «While improving women’s health has positive economic outcomes, it is foremost an issue of health equity and inclusivity

Die Beseitigung des «women’s health gap», sprich die gesundheitliche Ungleichheit zwischen Frauen und Männern, könnte die Lebensqualität von Frauen verbessern und Auswirkungen auf die Gesellschaft haben, indem die Gesundheit von zukünftigen Generationen verbessert und gesundes Altern gefördert wird. Gemäss McKinsey könnten Investitionen in diesem Bereich die Weltwirtschaft bis 2040 um jährlich 1000 Milliarden US-Dollar ankurbeln.

Auch der Bundesrat unterstrich 2024 die Bedeutung des Themas und verweist darauf, dass in der Schweiz ein klarer Handlungsbedarf besteht. Denn trotz der wachsenden Aufmerksamkeit besteht immer noch eine Lücke zwischen Wissen und Praxis: Während die Forschung immer mehr geschlechterspezifische Erkenntnisse hervorbringt, finden diese im klinischen Alltag noch nicht überall Anwendung. Vieles, was wissenschaftlich längst bekannt ist, erreicht die Versorgung nur zögerlich.

Was wird getan und was sollte noch getan werden?

Auch wenn noch viel Handlungsbedarf besteht, hat sich in der Schweiz in den vergangenen Jahren einiges getan. So lancierte der Schweizerische Nationalfonds (SNF) im Jahr 2023 das Nationale Forschungsprogramm (NFP) 83 Gendermedizin und -gesundheit, welches 19 Projekte zu unterschiedlichen Aspekten der Gendermedizin und -gesundheit fördert. 2024 wurde an der Universität Zürich der erste Lehrstuhl für Gendermedizin in der Schweiz eingerichtet und im selben Jahr veröffentlichte der Bundesrat seinen Bericht zur Gesundheit der Frauen. Darin werden verschiedene Massnahmen in der Zuständigkeit der Bundesstellen  definiert, welche zu einer besseren Berücksichtigung von Frauen und ihren spezifischen Bedürfnissen in den medizinischen Wissenschaften sowie der Prävention und Versorgung beitragen sollen. Klar ist, damit Gendermedizin ihr Potenzial entfalten kann, braucht es geeignete Rahmenbedingungen: eine stärkere Verankerung in Aus- und Weiterbildung, aktualisierte medizinische Leitlinien sowie genügend Zeit und Ressourcen in der klinischen Praxis, um geschlechterspezifische Unterschiede tatsächlich berücksichtigen zu können. Ebenso wichtig sind Organisation­sstrukturen, die offen für neuen Wissensinput sind und diesen im Arbeitsalltag aufnehmen und leben, da erst unter solchen Bedingungen wissenschaftliche Erkenntnisse überhaupt anschlussfähig werden. Wo diese Voraussetzungen gegeben sind, kann vorhandenes Wissen leichter in der Versorgung ankommen und zu einer differenzierteren Behandlung beitragen.

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