«Der Erwin, der vor ein paar Jahren hergekommen ist, ist mir jetzt fremd.» Erwin Fonseca aus Kolumbien.

Viele junge Musikerinnen und Musiker aus aller Welt zieht es jährlich für ein Studium in die Zentralschweiz. Was sind ihre Motive? Wie erleben sie die Ausbildung und das Leben in Luzern? Vier von ihnen berichten in der Reihe «International» von ihren persönlichen Erfahrungen.

«Meine Lebensweise und wie ich meine Umgebung beobachte und wahrnehme, hat sich ziemlich verändert.»

Erwin, du kommst aus Kolumbien. Inwiefern unterscheidet sich dein Alltag hier von dem in deinem Heimatland?

Der Unterschied ist gewaltig! Es kommen viele Faktoren ins Spiel, im Grunde genommen sind es zwei komplett verschiedene Welten und Lebensweisen. Die Routine bleibt zwar ungefähr gleich: In die Schule gehen, üben, vielleicht arbeiten, proben, Konzerte spielen usw. Aber hier habe ich einen solchen Luxus und keinen stressigen Lebensrhythmus wegen Gefahr und Angst mehr, deshalb nehme ich den Kontakt zur harten Realität und anderen Begebenheiten meines Lands anders wahr. Ich befinde mich nun in Sicherheit und frage mich, ob das Gleichheit ist und warum ich so viel Glück hatte.

Was gefällt dir in der Stadt Luzern besonders? Welches ist dein Lieblingsort?

Luzern ist klein, zauberhaft, verführerisch, geheimnisvoll. Man wird nicht müde, wenn man die Strassen immer wieder wandelt. Ich habe nicht nur einen Lieblingsort. Der Kulturkeller Winkel und seine gemütliche Atmosphäre, der Pool des Neubads als Bühne und Raum für Kunst ist für mich eine unvorstellbare Genialität, die Energie und die Stimmung im Treibhaus, die Ufschötti im Sommer, der Konsipark als zweites Zuhause, der Rotsee als Sportanlage. So könnte ich jede Ecke darstellen. Es ist viel los und Luzern ist in ständiger Bewegung, trotzdem spürt man die Ruhe und die Schönheit.

Welches Erlebnis ist dir bisher speziell in Erinnerung geblieben?

Das erste Mal im Dreilindenpark, am Tag meiner Aufnahmeprüfung, bleibt mir ewig im Kopf. Der Ausblick auf die Grösse und die Schönheit der Alpen, die Natur, dies ist schlichtweg unmöglich zu schildern. Gleichzeitig stand eine grosse Herausforderung vor mir, ich war atemlos, nervös, ein Fremder. Und trotzdem waren alle freundlich, haben mich unterstützt und ermutigt.

Womit kämpfst du?

Mit Unterschätzung, den ständigen Anforderungen, der Konkurrenz. Mit Ungleichheit, Schulden und anderen Angelegenheiten, die uns alle betreffen.

Was inspiriert dich hier?

Das Lernen, Austauschen, Entdecken, die Natur, die Ruhe, kleine unbemerkte Ecken und Orte, tausend verschiedene Kleinigkeiten.

Wie schätzt du die Schweiz als Ort ein, um Musiker/in zu sein?

10 von 10 Punkten. Ich bin immer wieder verblüfft – es ist unglaublich: Diese Vielzahl an Möglichkeiten, die Kulturförderung, die Vielfältigkeit an Räumen, Festivals, Projekten, Persönlichkeiten, Ideen usw. Aus diesem Grund habe ich gelernt oder herausgefunden, dass «Musiker sein» nicht nur auf der Bühne oder hinter einem Notenständer ausgeübt wird, sondern sich auch auf andere Ebenen und Gebiete ausweitet, wie z.B. andere Künste oder Wissenschaften, Forschung, Medizin, Management, Politik usw. Es gibt ziemlich viel zu entdecken und man soll offen, klug und bereit bleiben.

Was wirst du an der Schweiz vermissen?

Die engen, echten und guten Freundschaften. Freunde, die ich auch als meine Familie betrachte und mit denen ich mich wie zuhause fühle. Aber auch den Sommer am See, den Käse, die Pünktlichkeit des ÖV, das lustige Scheitern unter Freunden, wenn ich «Chuchichäschtli» auszusprechen versuche, 20 Prozent Rabatt (oder mehr) auf alle Biere…Jetzt ernst und ehrlich: Ich geniesse meinen Aufenthalt hier und je länger ich bleiben kann, desto zufriedener und fröhlicher lebe ich. Die Bürokratie werde ich allerdings vollkommen nicht vermissen.

Hast du Heimweh?

Ja, selbstverständlich. Man soll aber den Kopf auf Trab halten, klare Ziele setzen, Motivation finden, sich gut ernähren, meditieren oder Sport treiben. Ich hatte und habe immer noch viel Glück, wenn man sich darüber bewusst ist, kann man gegen alle Umständen mit Heimweh umgehen.

Inwiefern verändert die Zeit hier deine Persönlichkeit und deinen Stil als Musiker?

Ich habe eine gewisse Reife und Unabhängigkeit erreicht, vieles erlebt, manchmal gelitten, manchmal genossen, das ist mir viel wert. Meine Lebensweise und wie ich meine Umgebung beobachte und wahrnehme, hat sich ziemlich verändert. Das kann man nicht wegwerfen, nicht leugnen. Wer ich geworden bin, der Erwin, der vor ein paar Jahren hergekommen ist, ist mir jetzt fremd. Es war und ist eine Drehung um 180 Grad, mit Gewinn, mit Verlust, mit Irrtum, mit Erfolg, mit Konsequenzen…

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Hochschule Luzern – Musik

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