Soziokultur

Damit die Rocklänge irgendwann egal ist

Damit die Rocklänge irgendwann egal ist

HSLU-Absolventin Cindy Kronenberg erhält den Prix Courage 2021. Zusammen mit Stephanie Beutler, ebenfalls HSLU-Absolventin, engagiert sie sich für Opfer sexueller Gewalt.

Cindy Kronenberg wurde vor einigen Jahren selbst Opfer eines Sexualverbrechens. Heute unterstützt sie zusammen mit ihrer Kollegin Stephanie Beutler, die sie während ihres HSLU-Studiums kennengelernt hat, mit der Anlaufstelle Vergewaltigt.ch andere Betroffene. Dafür hat die Kinder- und Jugendarbeiterin mit einem Bachelor in Soziokultur den Prix Courage 2021 der Zeitschrift «Beobachter» erhalten.

Kronenberg habe die erlittene Kränkung und Verletztheit in unglaublich viel positive Energie umgewandelt, lobte Jury-Präsidentin Susanne Hochuli in ihrer Laudatio. Weitere Ehre wurde Kronenberg und Beutler zuteil, als sie im letzten Herbst in der Rechtskommission des Ständerates, welche für die Revision des Sexualstrafrechts zuständig ist, als Betroffene ihre Sicht darstellen durften. Zudem wurden die beiden Frauen von der zuständigen Bundesrätin ins Bundeshaus zu einem Gespräch eingeladen.

Interview von Eva Schümperli-Keller mit Cindy Kronenberg und Stephanie Beutler (auf dem Bild)

Cindy Kronenberg, herzlichen Glückwunsch zum Prix Courage für Ihr Engagement gegen sexuelle Gewalt und von Vergewaltigt.ch. Weshalb braucht es diese Plattform?

CK: Danke vielmals. Aus eigener Erfahrung weiss ich, dass Vergewaltigungsopfer das Erlebte ein Leben lang verarbeiten müssen. Ein solches Erlebnis bleibt auch nach abgeschlossener Traumatherapie immer präsent. Es hinterlässt Narben in der Psyche, die nie ganz verschwinden. Man fühlt sich oft alleine und falsch. Und hier setzt die Arbeit unseres Vereins an: Hier werden Betroffene von Betroffenen unterstützt, also von Menschen, die das Gleiche erlebt haben. Wir haben eine Webseite aufgebaut mit persönlichen Erfahrungen, aber auch mit vielen hilfreichen Informationen und Links, organisieren Austauschcafés und betreiben eine Chatbox. Wir bauen Präventionsprojekte für unterschiedliche Altersstufen auf. Zudem kämpfen Stephie, ich und andere gegen das weitverbreitete «Victim Blaming».

Was versteht man darunter?                                       

SB: Man sucht eine Mitschuld beim Opfer. Wehrt es sich nicht, trägt es in der Vorstellung vieler Menschen eine Mitschuld an der Tat, obwohl mittlerweile erwiesen ist, dass viele Betroffene in eine Art Schockstarre fallen und gar keine Möglichkeit haben, sich zu wehren. Dieses «Victim Blaming» weitet sich sogar auf das Verhalten, die Kleiderwahl oder den Alkoholkonsum des Opfers aus.

CK: So hören wir beispielsweise oft Sätze wie: «Anna war ja total betrunken und hat sich an der Firmenfeier wirklich jedem an den Hals geworfen. Kein Wunder, dass sie vergewaltigt worden ist.»

Man fokussiert also auf das Opfer statt auf den Täter?

SB: Genau. Aber die Schuld darf nie beim Opfer gesucht werden. Es ist immer die Schuld jener Person, die eine Grenze überschreitet. Verhalten und Motiv der angeklagten Person sollten im Zentrum der Ermittlungen stehen, nicht die Rocklänge oder der Alkoholkonsum des Opfers. Kein Flirten und keine lockere Kleidung erlauben es einer anderen Person, eine sexuelle Handlung vorzunehmen, die das Gegenüber nicht möchte.

CK: Es soll das Verhalten der Tatperson im Fokus stehen, und nicht, was die betroffene Person getan oder eben nicht getan hat. Ich wünsche mir deshalb, dass nach einem Sexualverbrechen niemand mehr nach dem Verhalten oder der Rocklänge des Opfers fragt. Die Selbstbestimmung eines Menschen, auch die sexuelle, ist ein Grundrecht. Es gibt keine Situation und kein der Tat vorausgehendes Verhalten, die das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung aushebeln.

Sie setzen sich beide auch für eine Revision des Sexualstrafrechts ein. Wo hapert es denn?

SB: Ja, wir engagieren uns beide bei Vergewaltigt.ch und in der Betroffenengruppe von Amnesty International Schweiz, die uns da stark unterstützt. Der Rechtstext setzt bei einer Vergewaltigung das Vorkommen von Gewalt voraus, er gilt nur für weibliche Opfer und ist nur gültig, wenn ein Penis in eine Vagina eingedrungen ist. Das bedeutet, dass nach der aktuellen Gesetzeslage das Verhalten des Opfers – hat es sich gewehrt, hat es geschrien – darüber entscheidet, ob jemand als Vergewaltiger verurteilt wird oder nicht.

CK: Das Verhalten der angeklagten Person sollte aber das sein, was zählt! Denn im Moment der Vergewaltigung erstarren bis zu 70 Prozent der Opfer vor Angst. Es muss egal sein, wie sich das Opfer verhält, denn die Tatperson verletzt dessen sexuelle Selbstbestimmung und macht etwas, was nicht okay ist. Gerade in der Schockstarre, die viele Opfer befällt, ist es gar nicht mehr möglich, ein Nein zu äussern oder es körperlich auszudrücken. Die explizite Zustimmung zu einer sexuellen Handlung ist unseres Erachtens die einzige Lösung, die diesen Aspekt angemessen berücksichtigt.

SB: Zudem ist in den meisten Köpfen das Bild eines männlichen Täters verankert, der dem hilflosen weiblichen Opfer im Dunkeln auflauert und es mit Gewalt überrumpelt. In meinem persönlichen Fall war das so, aber nur ein kleiner Teil der Fälle läuft so ab.

CK: Ja, genau. Laut einer EU-Umfrage von 2014 kennen beispielsweise rund 77 Prozent der Opfer den Täter persönlich; es ist der Vater, der Onkel, der Ehemann oder Freund. Und das ist auch das, was mir andere Betroffene erzählen: dass es jemand aus dem persönlichen Umfeld war. Zudem stören mich die viel zu enge Definition im Gesetzestext, und die Stereotypisierung von Opfer und Täter sind zusammen mit dem Victim Blaming und sogenannten «Vergewaltigungsmythen» problematisch.

Was sind solche «Vergewaltigungsmythen»?

CK: Vergewaltigungsmythen sind in vielen Köpfen fest verankert. Laut einer sotomo-Umfrage denkt zum Beispiel ein Drittel der Männer, wenn Frauen Männer provozierten, seien sie selbst schuld, wenn sie vergewaltigt würden. Zahlreiche Männer glauben auch, dass Vergewaltigungsvorwürfe oft erfunden seien. Viele Frauen verzichten aus unterschiedlichen Gründen auf eine Anzeige, was ihr gutes Recht ist. Ihre Bekannten interpretieren das aber vielleicht so: Vielleicht hat sie die Vergewaltigung ja einfach nur erfunden und hat nichts Richtiges vorzuweisen.

SB: Genau. Das Bild der Frau, die aus Rache an einem Mann ein Sexualdelikt erfindet, hält sich hartnäckig. Kein Wunder, dass Betroffene lieber schweigen. Und weil sie schweigen, ist kaum jemandem bewusst, dass jede neunte Frau ab 16 Jahren in der Schweiz vergewaltigt wird.

Zurück zur Revision des Sexualstrafrechts. Was fordern Sie?

CK: Wir fordern einen Rechtstext, der die sexuelle Selbstbestimmung jedes Individuums schützt. Was soll in Zukunft der Massstab sein, ob diese Selbstbestimmung erhalten geblieben ist oder nicht? Für uns ist es die Zustimmungslösung. Sexuelle Handlungen ohne Einwilligung sollen bestraft werden.

SB: Und wir sprechen nicht davon, einen Vertrag zu unterschreiben… Zusätzlich ist es wichtig, dass unser Strafrecht die klare Botschaft enthält, dass Sex ohne Einwilligung kein Bagatelldelikt ist, sondern eine Straftat, die geahndet wird.

Erwarten Sie dadurch mehr Verurteilungen? Heute kommt es bei Sexualdelikten ja nur relativ selten zu einer Verurteilung.

SB: Nur rund acht Prozent der Opfer erstatten Anzeige, denn das Prozedere einer polizeilichen Befragung kann retraumatisierend sein, weil man sich immer wieder mit der Tat auseinandersetzen muss. Bloss in rund einem Viertel der angezeigten Fälle kommt es dann zu einer Verurteilung, das heisst: Aktuell bleiben 92 Prozent, sprich 736’000 Fälle von sexueller Gewalt straffrei! Diese Verhältnisse zeigen, dass momentan die Chancen auf Gerechtigkeit in einem Rechtsprozess sehr schlecht stehen.

Natürlich wird eine Vergewaltigung auch mit der von uns geforderten Zustimmungslösung immer ein Vier-Augen-Delikt bleiben. Es wird immer Wort gegen Wort stehen und es wird auch weiterhin der Grundsatz «Im Zweifel für den Angeklagten» gelten. Als Opfer sexueller Gewalt macht es aber einen Unterschied, ob jemand am Schluss freigelassen wird, weil das Geschehene rechtlich gar nicht als Verbrechen angesehen wird, oder ob die angeklagte Person freigesprochen wird, weil es zu wenig Beweise gibt.

CK: Wir erhoffen uns zudem einen Diskurs darüber, wie schwierig all diese Schritte für Betroffene sind und was sich alles noch ändern darf. Dies startet bei der Einvernahme. Wir hoffen und wünschen uns, dass der Fokus weg von den Betroffenen geht, dass kein Opfer mehr beweisen muss, dass es sich gewehrt hat. Dass Fachpersonen wie Anwältinnen, Polizisten, Richterinnen oder Fachpersonen der Sozialen Arbeit und die Gesellschaft sensibilisierter im Umgang mit Betroffenen sind. Und da können wir uns nur an alle Fachstellen wenden und ihnen ans Herz legen, ihr Personal zu schulen. Dies müsste meiner Meinung nach schon an Uni und Fachhochschulen Lernstoff sein. Es ist mir wichtig, es noch einmal zu betonen: Es ist nie die Schuld der Betroffenen, egal, was sie trugen, egal, was sie tranken, egal, ob sie sich wehren konnten oder erstarrten. Es ist egal, ob die freundliche Chefin, der makellose Ehemann oder eine fremde Person die Tat begangen hat. Es ist nie die Schuld der Betroffenen, sondern immer die Schuld jener, die eine Grenze überschreiten und einen Eingriff in deine Intimsphäre machen. Keine Kleidung, kein Alkoholkonsum, kein Flirten erlaubt es jemandem, eine sexuelle Handlung durchzuführen, welche das Gegenüber nicht möchte.

Dieser Artikel wurde am 25. Januar 2022 auf dem Soziokulturblog veröffentlicht.

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Kommentare

1 Kommentare

Simone

Danke für diesen wichtigen Beitrag - der Weg ist noch weit, jeder Schritt in die richtige Richtung ist gut. Und herzliche Gratulation zum Prix Courage!

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