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Sozialpädagogik: Einsatz für Selbstbestimmung und Gleichstellung

Sozialpädagogik: Einsatz für Selbstbestimmung und Gleichstellung
Die Sozialpädagogik unterstützt Kinder und Erwachsene in herausfordernden Lebenssituationen so, dass sie ein möglichst selbstbestimmtes und erfülltes Leben führen können.

Der Schwerpunkt Sozialpädagogik war 2012 in der Zentralschweizer Fachhochschullandschaft neu und ist heute so aktuell wie eh und je. Vizedirektorin und Institutsleiterin Pia Gabriel-Schärer spricht darüber, wie sich der Bereich in den letzten Jahren entwickelt hat, warum sozialpädagogische Förderung über die ganze Lebensspanne bedeutsam ist und wo punkto Gleichstellung noch Handlungsbedarf besteht.

Pia Gabriel-Schärer, was deckt das Feld der Sozialpädagogik alles ab?
Die Sozialpädagogik unterstützt Kinder und Erwachsene in herausfordernden Lebenssituationen. Sie fördert die Entwicklung der Menschen und gestaltet ihren Alltag so, dass sie ein möglichst selbstbestimmtes, erfülltes Leben führen können. Es ist ein vielschichtiges Berufsfeld, wofür es ein grosses Handlungsrepertoire braucht.

Welche Handlungsfelder neben dem der Beeinträchtigung umfasst es noch? 
Wenn man vom Verständnis einer sozialpädagogischen Bildung und Entwicklung über die ganze Lebensspanne ausgeht, könnte man für den Lebensanfang beispielhaft die Frühe Förderung oder die sozialpädagogische Familienbegleitung und die Erziehungshilfen nennen. Ein anderer Schwerpunkt wäre der Umgang mit sogenannten herausfordernden Verhaltensweisen, die nicht nur im Heimkontext, sondern überall auftreten können. Und auch am Ende des Lebens, im Alter, kann die Sozialpädagogik sehr wertvoll sein. Im Zentrum steht hier die Frage der Lebensqualität: Was brauche ich, um nicht einsam zu werden und um möglichst lange selbstbestimmt zu Hause zu leben? Auch bei Fragen zu Sterben und Tod, die sich übrigens nicht nur im Alter stellen, kann die Profession Unterstützung für den würdevollen Umgang leisten.

Bleiben wir beim Bereich Beeinträchtigung. Wieviele Menschen sind davon betroffen?
Von der Definition her sind Menschen beeinträchtigt, wenn sie länger als sechs Monate  bei körperlichen Funktionen, geistigen Fähigkeiten oder psychischer Gesundheit behindert sind und dadurch ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft erschwert ist. Dabei gibt es ganz viele Formen von offensichtlichen Geburtsgebrechen über Behinderungen, die mit der Zeit auftreten, bis hin zu unsichtbaren psychischen Beeinträchtigungen. Aktuell geht der Bund von 1,8 Millionen Betroffenen in der Schweiz aus, wobei knapp 30 Prozent davon schwer beeinträchtigt sind. Eine hohe Zahl also, wofür die Gesellschaft klar eine Verantwortung trägt.

Gleichstellung heisst nicht, dass alle gleich sind, sondern dass es eine Vielfalt gibt, die ihre Berechtigung hat und spannend ist.

Pia Gabriel-Schärer

Der Bereich befindet sich im Umbruch.
Ja, statt der defizitorientierten und paternalistischen Haltung von früher fokussiert man heute darauf, was eine Person kann und wie ihre Autonomie am besten gestärkt wird. Der Wertewandel ermöglicht viel Neues: Denken wir an die Assistenzangebote, die aus den Beeinträchtigten gewissermassen Auftraggebende machen. Selbst bestimmen zu können, wann man aufsteht, was man anzieht oder was auf dem Esstisch steht, ist ein grosser Change, wenn das vorher stark vorgegeben wurde. Aus professioneller Sicht ist man gefordert, die richtige Passung und das richtige Mass an Unterstützung anzubieten.
Von den rechtlichen Grundlagen her bescheinigt man der Schweiz gute Rahmenbedingungen in Bezug auf Gleichstellung und Integration. Bei der Umsetzung jedoch gibt es schon noch Handlungsbedarf. Es ist ja fast zwanzig Jahre her, seit etwa das Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft trat, und wir sind sicher noch nicht am Ziel.

Woran muss noch gearbeitet werden?
Um der Forderung nach Selbstbestimmung gerecht zu werden, müssen Wahlmöglichkeiten wirklich existieren. Wenn es nur die Option «Heim» gibt oder bei den Eltern zu sein, dann kann man nicht wählen. Die Institutionen können nicht abgeschafft werden, aber es braucht mehr Variationen für teilstationäre oder ambulante Angebote und für verschiedene Modelle mit mehr oder mit weniger Begleitung. Allerdings kann ich auch gut verstehen, dass diese Flexibilisierung für Organisationen und ihre Planungssicherheit herausfordernd ist.

Kann die Hochschule einen Beitrag zur Gleichstellung leisten?
Absolut, die Begleitung der Transformation ist wichtig und es gibt bereits viele gute Beispiele. Das integrative Tourismus-Projekt (ArTiv) hat z. B. gezeigt, wie bereichernd die Zusammenarbeit mit beeinträchtigten Menschen ist. Das erleben wir auch in der partizipativen Forschung: Beim Projekt SEGEL etwa sind Menschen mit Beeinträchtigung Teil des Forschungsteams. Das ist aufwändig, aber funktioniert wunderbar.
Dass man bei Integrationsprojekten manchmal etwas Tempo rausnehmen muss, kann übrigens grundsätzlich gut tun. Ich habe mal an einem Kongress erlebt, wie eine Referentin ihren Vortrag in einfacher Sprache hielt. Es war langsamer und mit weniger Fachbegriffen gespickt als sonst und somit eine Wohltat zum Zuhören.

2012 führte die Hochschule die Studienrichtung Sozialpädagogik ein, etwas später das Institut Sozialpädagogik und Bildung. Eine Erfolgsgeschichte?
Ja, ich denke, das darf man so sehen. Erstens von der Studierendenzahlen her sowie auch punkto Forschung und Dienstleistung. Wir sind am Puls der Zeit und unsere Ergebnisse werden genutzt, was wohl auch mit der engen und guten Zusammenarbeit mit der Praxis zusammenhängt.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Unter anderem hoffe ich, dass die gelebte Diversity selbstverständlich wird. Denn die Vielfalt der Menschen ist nicht nur sehr berechtigt, sondern auch spannend.

Pia Gabriel-Schärer

Prof. Pia Gabriel-Schärer

Pia Gabriel-Schärer ist Vizedirektorin der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit und Leiterin des Instituts für Sozialpädagogik und Bildung.

Institut für Sozialpädagogik und Bildung (ISB)
Das Institut Sozialpädagogik und Bildung der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit erarbeitet Lösungen für komplexe Herausforderungen zu Frage- und Problemstellungen an den Schnittstellen Soziales, Bildung, Erziehung, Gesundheit und Lebenswelt. Dabei ist es in allen Bereichen des vierfachen Leistungsauftrags (Aus-, Weiterbildung, Forschung und Dienstleistungen) aktiv.

Fachstelle Barrierefreiheit 
Die Fachstelle Barrierefreiheit der Hochschule Luzern unterstützt Studierende mit Beeinträchtigung im Sinne der Gleichstellung und hindernisfreien Lehre.

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Interview: Anette Eldevik
Bild: Getty Images
Veröffentlicht: 3. Juni 2022

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