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«Die Schulsozialarbeit ist nicht mehr wegzudenken»

«Die Schulsozialarbeit ist nicht mehr wegzudenken»
Die Schulsozialarbeit, die Ende der 1990er-Jahre in der Deutschschweiz aufkam, ist ein Erfolgsmodell.

Dozent und Projektleiter Uri Ziegele erinnert sich an die Anfangszeit der Schulsozialarbeit in der Deutschschweiz. Dazu führt er aus, warum eine wirksame Schulsozialarbeit mehr zu bieten hat als Problembewältigung und Krisenintervention und warum es wünschenswert wäre, dass die Schule vermehrt als Lebensort und nicht nur als Lernort verstanden wird.

Uri Ziegele, die Schulsozialarbeit gilt als jüngeres Arbeitsfeld innerhalb der Sozialen Arbeit. In den 1990er-Jahren erlebte sie einen grossen Aufschwung, warum?
Das liegt daran, dass die Schule sich damals immer mehr mit erzieherischen Aufgaben konfrontiert sah und sich nicht mehr auf ihr «Kerngeschäft», die Wissensvermittlung, fokussieren konnte. Das Leben schien komplexer geworden, durch die Individualisierung und Pluralisierung der Gesellschaft entstanden neue Herausforderungen, die sich auch auf die Schule auswirkten. War die Schule früher fast wie ein abgeschotteter Raum, öffnete sie sich nun für andere Professionen, um die Kinder und Jugendlichen zu unterstützen und die Lehrpersonen zu entlasten. Das war offensichtlich hilfreich. Die Soziale Arbeit in der Schule konnte sehr schnell eingeführt werden und ist seit Mitte der 2000er-Jahre in allen Deutschschweizer Kantonen etabliert.

Schulsozialarbeit – sich um störende Schülerinnen und Schüler kümmern und Konflikte lösen, kommt einen als erstes in den Sinn. Ein Klischee?
In der Intervention, etwa bei erschwertem Unterricht sowie vor allem bei Gewalt oder Mobbing, hat die Schulsozialarbeit tatsächlich ihren Ursprung. Das Aufgabengebiet hat sich dann aber relativ schnell weiterentwickelt, denn die Schülerinnen und Schüler, Lehrpersonen oder Erziehungsberechtigten tragen ja auch immer ihre Lebenswelt und ihre Erfahrungen mit in die Schule. Um die Kinder bei der gelingenden Lebensgestaltung zu unterstützen, braucht es daher nicht nur die Behandlung von (bio-)psychosozialen Problemen, sondern auch deren Prävention und Früherkennung.

Die drei Funktionen der Schulsozialarbeit: Prävention, Früherkennung und Behandlung (bio-)psychosozialer Probleme.
Über die Funktionen Prävention, Früherkennung und Behandlung

«Für die Soziale Arbeit in der Schule lassen sich die drei Funktionen Prävention, Früherkennung und Behandlung (bio-)psychosozialer Probleme festlegen. Von Behandlung lässt sich sprechen, wenn ein manifestes gegenwärtiges Problem behoben, entschärft oder zumindest gelindert werden soll. Prävention hingegen meint hauptsächlich die Stärkung von Schutzfaktoren und die Ursachenbehandlung, die versucht, zukünftige mögliche Probleme bei unbestimmten Personen zu verhindern. (…) Die Früherkennung hingegen zielt auf eine Strukturierung von Beobachtungen [von möglichen Problemen] in einem sozialen System durch Fachpersonen der Schule ab. (…) Alle drei Funktionen richten sich dabei nicht nur an einzelne Personen (Verhalten), sondern auch an deren soziale Systeme mit ihren komplexen strukturellen Bedingungen (Verhältnis).»
(Uri Ziegele, in: Gschwind, Ziegele & Seiterle (2014) 38)

Landläufig wird von «Schulsozialarbeit» gesprochen, in Fachkreisen eher von der «Sozialen Arbeit in der Schule» – was macht den Unterschied?
Mit dem Begriff «Soziale Arbeit in der Schule» beschränkt man sich nicht auf die Sozialarbeit im engeren Sinn, sondern bringt alle Berufsfelder, also auch die Sozialpädagogik und die Soziokulturelle Animation, ein. Dies erlaubt es, die zentralen drei Funktionen der Prävention, Früherkennung und Behandlung von Problemen integraler abzudecken.

Soziale Arbeit an der Schule vs. Schulsozialarbeit

Mit dem Begriff «Soziale Arbeit an der Schule» beschränkt man sich nicht auf die Sozialarbeit im engeren Sinn, sondern bringt alle Berufsfelder der Sozialen Arbeit ein, das heisst Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Soziokulturelle Animation.
Somit geht es bei der Sozialen Arbeit in der Schule nicht nur um die problembewältigende Inklusionshilfe für äussere Lebenslagen, sondern auch um die problemverhindernde bzw. -bewältigende Sozialisationshilfe für innere Lebenslagen und die problemverhindernde bzw. potenzialfördernde Kohäsionshilfe für ein wirksames Zusammenleben im Sozialraum. Oder, mit anderen Worten, um eine integrale Prävention, Früherkennung und Behandlung (bio-)psychosozialer Probleme sowie eine Förderung (bio-)psychosozialer Potenziale mit Hilfe eines breiten Differentials an Methoden der Sozialen Arbeit (vgl. Husi/Villiger (2012) 55).

Welche Kompetenzen muss eine Schulsozialarbeiterin, ein Schulsozialarbeiter mitbringen?
Neben den allgemeinen Selbst-, Sozial-, Methoden- und Fachkompetenzen der Sozialen Arbeit sind spezifisches Fachwissen zur Schule sowie auch weitere methodische Kenntnisse nötig, um allen Funktionen gerecht zu werden. Eine ausgeprägte Reflexionskompetenz ist sicher auch von Vorteil, da man meistens allein arbeitet und die eigene Vorgehensweise beobachten muss, ebenso wie gute Kommunikationsfähigkeiten, denn man hat ja mit Menschen unterschiedlichen Alters und Hintergründen zu tun.

Das Berufsfeld und wichtige Anspruchsgruppen im Überblick.

Was läuft gut, was weniger?
Mittlerweile ist die Schulsozialarbeit sicher nicht mehr wegzudenken. Ihre genaue Zuständigkeit und ihre Rahmenbedingungen haben sich auch mehrheitlich geklärt. Teilweise muss die Zusammenarbeit mit der Schule noch etwas austariert werden, was aber einfach mit den unterschiedlichen Handlungslogiken und Herangehensweisen der beiden Professionen zu tun hat.
Für verbesserungswürdig halte ich die teilweise tiefen Pensen: Es wäre wichtig, dass die Anzahl der Lernenden pro Fachperson nicht zu hoch wird und dass diese nicht mehrere Schulen gleichzeitig betreuen muss. Sonst besteht Gefahr, dass man nicht übers Feuerlöschen hinauskommt und keine nachhaltige Wirkung erzielt.
Insgesamt – und das freut mich natürlich – habe ich den Eindruck, dass das Interesse am Beruf immer mehr steigt. Das zeigt sich unter anderem an der wachsenden Nachfrage nach Weiterbildungen, an den Mitgliederzahlen im Fachverband sowie an einer zunehmenden Forschungstätigkeit. Auch die Fluktuation im Berufsfeld ist jeweils erfreulich tief.

Welche Vision haben Sie von der Schulsozialarbeit?
Ich stelle mir die Schule als Lebensraum vor, nicht nur als Lernort. Denn nicht nur die formale Bildung ist wichtig, sondern auch die non-formale und informelle Bildung, also das, was man etwa im Freundeskreis und somit ausserhalb des Stundenplans lernt. Die Schülerinnen und Schüler sollten daher mehr partizipieren können, um Demokratisierungsprozesse zu erleben und Verantwortung zu übernehmen. Auch das Gemeinwesen könnte mehr einbezogen werden, um das Lernen über Begegnungen und Projekte zu ermöglichen. Zudem wünsche ich mir eine noch engere Zusammenarbeit der unterschiedlichen Fachpersonen. Für alle diese Veränderungen würde die Schulsozialarbeit sehr viel Wissen und Können mitbringen.

Uri Ziegele

Uri Ziegele

Dozent und Projektleiter Uri Ziegele leitet den Bereich «Soziale Arbeit an der Schule» an der Hochschule Luzern.

CAS Soziale Arbeit in der Schule

Im CAS-Programm Soziale Arbeit in der Schule werden die unterschiedlichen Perspektiven von Schule und Sozialer Arbeit sorgfältig beleuchtet und in ein ganzheitliches Aufgabenverständnis integriert. Dabei geht es darum, die Soziale Arbeit in der Schule ihren drei grundlegenden Funktionen Prävention, Früherkennung und Behandlung von (bio)psychosozialen Problemen zuzuordnen und sie als verbindlichen Auftrag der Systeme «Schule» und «Soziale Arbeit» zu verankern.

Interview: Anette Eldevik
Mitarbeit: Livia Barmettler
Veröffentlicht: 7. Juni 2022

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