Behinderung und Lebensqualität,

Forschung

Ist das Teilhabe? Ist das wirklich Inklusion?

<strong>Ist das Teilhabe? Ist das wirklich Inklusion?</strong>

In einer Werkstatt zu arbeiten, einem geschützten Atelier, das ist für Menschen mit schweren Beeinträchtigungen kaum möglich. Eine andere Art der Teilhabe hingegen schon. Eine Studie der Hochschule – Soziale Arbeit zeigt in diesem Bereich Nachholbedarf.

Inklusion, Integration, Teilhabe – Es sind Worte, die uns in den letzten Jahren immer häufiger begegnen. Wir wollen eine inklusive Gesellschaft sein, an der alle Menschen teilhaben können, wollen gleiche Rechte und Möglichkeiten für alle.

Was jedoch bedeutet Inklusion und Teilhabe in der alltäglichen Arbeit mit Menschen mit schweren Beeinträchtigungen? Eine Studie der Forschenden Pia Georgi-Tscherry und Matthias Pfiffner liefert eine Bestandesaufnahme der institutionellen Angebote für erwachsene Menschen mit schwerer mehrfacher, körperlicher und kognitiver Beeinträchtigung in Deutschschweizer Institutionen der Behindertenhilfe.

Sie fragen: Wie sind Tagesstätten, die eine Arbeit für diese Zielgruppe anbieten, konzeptionell gestaltet und wo gibt es Potenzial zur Verbesserung? Dafür untersuchten sie Konzepte und Vorgaben der Kantone, der Institutionen und führten eine Umfrage bei Leitungspersonen und Mitarbeitenden der Institutionen durch.

Mitgemeint und mit dabei
Die Kantone formulieren jeweils Ansprüche für die Angebote im Behindertenbereich. Dabei werden Partizipation in der Gestaltung der Angebote durch Menschen mit Beeinträchtigungen, die freie Wahl oder Selbstbestimmung betont. In den meisten Fällen jedoch bleiben die Forderungen unkonkret und unpräzise. Zudem, so geht auch aus der Studie hervor, finden Menschen mit schwerer mehrfacher Beeinträchtigung in den Konzepten selten Beachtung.

Für Menschen mit schweren Beeinträchtigungen reicht es oft nicht aus, einfach «Beisitzende» zu sein.

Pia Georgi-Tscherry und Matthias Pfiffner

Auf Umsetzungsebene, in den Institutionen, zählen zu den Angeboten für Menschen mit schweren Beeinträchtigungen kreative Tätigkeiten oder basale Wahrnehmungserfahrungen. Arbeiten im Garten oder im Freien, mit Tieren oder Materialen wie Textil, Holz, Ton oder Farbe sind ebenso Thema wie Singen und Musizieren. Menschen mit schweren Beeinträchtigungen werden jedoch oft auch als Beisitzer:innen in einem ruhigen Teil des Raumes «abgestellt» und dort sich selbst überlassen. Sie seien damit zufrieden, da sie dabei sein können, wird von den Mitarbeitenden begründet.

Woher die Widersprüche?
In den Konzepten der Institutionen stehen oft Produkte der Tätigkeiten im Vordergrund. Es wird zudem betont, dass für Menschen mit schweren Beeinträchtigungen kein anderer Arbeitsbegriff gelten soll als für Menschen ohne Beeinträchtigung. Gleichzeitig finden Leitungspersonen und Mitarbeitende gemäss Befragung, dass Arbeit nicht nur Produktionsarbeit darstellen muss.

Hier zeigt sich ein Widerspruch, der auf fachspezifische Lücken hinweisen könnte. Lücken, die besonders beim Thema «Teilhabe» sichtbar werden. Zwei Drittel der Befragten beispielsweise waren der Meinung, dass man als «Beisitzende» Teilhabe erleben könne. Diese Angaben seien irritierend, betont Pia Georgi-Tscherry, da die Befragten wissen würden, dass die Adressatinnen und Adressaten andere Menschen brauchen, um ihnen die Umwelt nahezubringen. Da stellt sich die Frage, wie diese Menschen, ohne aktiven Einbezug durch Dritte, Teilhabe erleben können. Ebenso erkannten beinahe 90 Prozent der Befragten, dass es für Menschen mit schweren Beeinträchtigungen nicht ausreicht, wenn sie wie «in einem guten Hotel» umsorgt werden.

Weiterbildung im Themenbereich Behinderung und Lebensqualität

Unterstützung bieten für ein gutes Leben ohne Benachteiligung: Die Weiterbildungen vermitteln praktische und theoretische Grundlagen zur Beratung und Begleitung von Menschen mit physischen, psychischen oder kognitiven Einschränkungen.

Empfehlungen
Diese teils widersprüchlichen Aussagen könnten auf eine grundsätzliche Unsicherheit der Mitarbeitenden im Umgang mit den Adressatinnen und Adressaten hindeuten. Um dem entgegenzuwirken, wird den Institutionen empfohlen, die Kompetenzen der Mitarbeitenden in spezifischen Weiterbildungen zu schulen. Dies entspricht auch dem Wunsch vieler Befragten. Es würde ihnen selbst mehr Sicherheit im Umgang mit der Zielgruppe vermitteln und andererseits vor allem auch den Menschen mit schweren Beeinträchtigungen neue Möglichkeiten im Alltag eröffnen.

Auch wäre eine ganzheitliche Wahrnehmung der Menschen sehr zielführend. Im Gegensatz zu rein medizinischen oder sozialen Einschätzungen würden ganzheitliche Ansätze das Handlungsspektrum erweitern, da sie die vorhandenen Möglichkeiten ins Zentrum rücken und nicht die Einschränkungen. Georgi-Tscherry und Pfiffner empfehlen dabei insbesondere den Ansatz des Biopsychosozialen Modells.

Was ist das Biopsychosoziale Modell?

Im Biopsychosozialen Modell wird eine schwere Beeinträchtigung als Wechselwirkung zwischen schweren körperlichen und psychischen Einschränkungen, gravierenden Beschränkungen der Aktivitäten und Handlungsmöglichkeiten sowie weitreichende Behinderung der gesellschaftlichen und kulturellen Teilhabe betrachtet (vgl. Lamers, W. & Musenberg, O. & Sansour, T. (Hrsg.). (2021). Qualitätsoffensive Teilhabe von erwachsenen Menschen mit schwerer Behinderung. Grundlagen für die Arbeit in Praxis, Aus- und Weiterbildung: Bd. Impulse: Schwere und mehrfache Behinderung. Athena).

Abschliessend führen Georgi-Tscherry und Pfiffner als Fazit an, dass Begrifflichkeiten wie Teilhabe und Inklusion von den Institutionen zwingend definiert und inhaltlich gefüllt werden müssen. Sonst bestünde die Gefahr, dass das richtungsweisende Ziel der Inklusion zu einer inhaltslosen Worthülse verkomme.

Matthias Pfiffner

Co-Autor Matthias Pfiffner war von 2019 bis 2021 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialpädagogik und Bildung an der Hochschule Luzern und arbeitet seit 2021 als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Behindertenhilfe des Kantons Basel-Stadt.

Informationen zur Studie
Alles Wissenswerte zur Studie finden Sie hier. Sie kann kostenlos über den interact-Verlag bezogen werden.

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Informationen über Weiterbildungen am Kompetenzzentrum Behinderung und Lebensqualität der Hochschule Luzern finden sich hier.

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Von: Jana Avanzini
Bild: Getty Images
Veröffentlicht am: 20. Januar 2023

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