«Autos müssen sozialer werden»
Autonome Autos, Assistenzsysteme, Datenflut: Der Verkehr wird immer digitaler - und das immer schneller. Mobility Neo im Interview mit Verkehrsexperte, Martin Schonger, über wo wir stehen und wohin die Reise noch führt.
Interview von Mobility Neo Magazin mit Martin Schonger vom 31.03.2021:
Martin Schonger, man hört immer öfter von «digitalisierter Mobilität». Was versteht man kurz und knapp darunter?
Die Nutzung von Kommunikations- und Informationstechnologien in der Mobilität, sei es die App für das E-Trotti, der Spurhalteassistent im Auto oder ein digitales Stellwerk.
Was bringt uns intelligente, digitale Mobilität?
Sehr vieles. Einerseits mehr Effizienz und weniger Umweltverschmutzung, beispielsweise durch besseres Kapazitäts- und Flottenmanagement von Zügen und Flugzeugen. Andererseits weniger Verspätungen dank «Predictive Maintenance». So können zum Beispiel Computer den Reparaturbedarf einer Zugtüre vorhersehen, noch bevor sie kaputt geht. Ausserdem sind wir dank der vielen Assistenzsysteme in den Verkehrsmitteln sicherer unterwegs.
Damit die «Verkehrswende» funktioniert, müssen Autos untereinander und mit ihrer Umgebung kommunizieren. Wie kann das konkret aussehen?
Der Mensch ist nicht fürs Autofahren gemacht. Evolutionär sind wir an Gehen und Laufen angepasst. Dabei gibt es auch kaum tödliche Zusammenstösse, sieht man mal von Massenpaniken ab. Bei unserer ursprünglichen Art der Fortbewegung können wir ganz intuitiv und oft unbewusst mit anderen Fussgängerinnen und Fussgängern kommunizieren, ihnen also vermitteln, wohin wir gehen möchten, wie wir einander ausweichen. Beim Autofahren ist das nicht möglich, denn die Geschwindigkeit ist zu hoch und der Blickkontakt zu gering. Deswegen muss das Auto der Zukunft genau diese Fähigkeiten haben. Heute gibt es ja schon Notbremsassistenten. Noch besser wäre es aber, wenn das vorausfahrende Auto ständig mitteilt, ob es bremst, die Spur wechselt oder gerade Glatteis festgestellt hat. Autos müssen sich ein Beispiel am Menschen nehmen und sozialer werden.
Autos haben immer mehr Assistenzsysteme. Welche gibt es bereits, welche sollen noch kommen?
Es gibt natürlich die bekannten Systeme wie Einparkassistenten, Abstandsregeltempomaten, Notbremssysteme, eCall und so weiter. Mit Hilfe von 5G werden hoffentlich die kommunikativen, sozialen Assistenten kommen. Heisst: Ihr Auto wird permanent allen anderen Autos Informationen übermitteln und diese umgekehrt auch von anderen Autos in der Umgebung empfangen. Stellen Sie sich das Jahr 2025 so vor: Einen Kilometer vor Ihnen geraten konventionelle Autos in einen Auffahrunfall. Ein modernes, vernetztes Auto fährt vorbei. Es schickt ein Live-Video an die Rettungsleitstelle und informiert alle Autos in der Umgebung. Ihr Auto schaltet automatisch das Warnblinklicht ein, drosselt langsam und kontrolliert die Geschwindigkeit. Nun stehen Sie im Stau, während zwei Kilometer hinter Ihnen ein Rettungswagen auf die Autobahn fährt; sofort wird Ihr Auto informiert und erinnert Sie an die Bildung der Rettungsgasse.
Autohersteller hängen immer mehr Autokomponenten ans Internet, beispielsweise Stossdämpfer. Was bringt das?
Das generiert Daten, die vielfältig genutzt werden können. Eine Anwendung ist die schon erwähnte Predictive Maintenance: Ihr Smartphone informiert Sie, dass Ihr Stossdämpfer ausgetauscht werden sollte, bevor er völlig kaputt ist. Ferner könnte Strassenverkehrsämtern aufgrund der Meldungen vieler Verkehrsteilnehmenden präzis mitgeteilt werden, wo Strassenmängel behoben werden sollten.
Kritische Stimmen warnen vor totaler Überwachung. Ist diese Angst berechtigt?
Das ist kein spezifisches Problem der Mobilität. Schon heute haben Menschen dauernd ein Smartphone dabei und ihre Bewegungen können jederzeit genau verfolgt werden. Oder denken Sie nur an den gesamten unverschlüsselten E-Mail-Verkehr. Oder an die Tatsache, dass sie mit einem Kennzeichen herumfahren. Die Digitalisierung der Mobilität ändert an diesen Problematiken kaum etwas.
Welche weiteren Risiken birgt die Digitalisierung der Mobilität?
Es scheint im Westen den Glauben zu geben, jede nützliche Technologie müsse bedeutende Risiken haben. Dabei zeigt ein nüchterner Blick in die Vergangenheit, dass bei fast allen Technologien der Nutzen weit überwiegt. Das ist auch nicht verwunderlich, denn Wissenschaft und Technik haben zum Ziel, menschendienliche Technologien zu schaffen. Natürlich, die Digitalisierung birgt schon auch Risiken. Eines davon ist die suchtähnliche Abhängigkeit von Smartphones und die soziale Vereinsamung. Oder die Angreifbarkeit durch Hacker. Letzteres ist ein Risiko in allen sicherheitsrelevanten Bereichen, vom Gesundheitswesen über die Energieversorgung bis hin zur Mobilität.
Fahren, ohne irgendetwas tun zu müssen: Selbstfahrende Autos dürften am Ende der digitalen Entwicklungen stehen. Was halten Sie davon?
Weltweit sterben jedes Jahr mehr als 1,3 Millionen Menschen im Strassenverkehr. Bei jungen Menschen sind Strassenverkehrsunfälle die Todesursache Nummer eins. Autonome Fahrzeuge könnten fast alle dieser Menschenleben retten. Das übersteigt unsere Vorstellungskraft. Zudem wären autonome Autos ein Gewinn von Lebensqualität: Jeder kann sich dann einen «Chauffeur» leisten. Menschen, die heute vom motorisierten Individualverkehr ausgeschlossen sind, etwa wegen eines Handicaps, Jugendliche und viele alte Menschen, könnten von mehr gleichberechtigter gesellschaftlicher Teilhabe profitieren. Es gäbe autonome Taxis zu einem Bruchteil der heutigen Preise, was das Automobil noch mehr demokratisieren würde, als es etwa die Mobility Genossenschaft schon schafft.
Wann rollen die ersten autonomen Fahrzeuge über Schweizer Strassen?
Wann Autos ohne Lenkrad kommen, ist schwer zu sagen. Das Problem ist die letzte Meile. Auf den Autobahnen ist autonomes Fahren greifbar nah. Im Jahr 2030 werden Sie in Rotkreuz auf die Autobahn fahren, das Lenkrad verschwindet im Armaturenbrett; Sie schauen sich einen Film an, der auf die Windschutzscheibe projiziert wird, und keine acht Stunden später wachen Sie entspannt in Hamburg auf und fahren sich selbst die letzten paar Kilometer zum Ziel.
Nicht nur die Technologie verändert sich, sondern auch das Mobilitätsverhalten und die Einstellungen der Menschen. Welche Entwicklungen sehen Sie hier?
Mensch und Technologie sollte man im Zusammenhang sehen. Zum einen schafft der Mensch die Technik, zum anderen verändert sie das menschliche Verhalten. Wohl kaum jemand hat vor 20 Jahren nach einem Smartphone verlangt, heute ist es Gebrauchsgegenstand Nummer eins. Ich kann nicht in die Zukunft sehen, aber zwei Trends erkenne ich: Zum einen wird das gesellschaftliche Bewusstsein dafür steigen, wie wichtig Bewegung für unsere Gesundheit ist. Viele Menschen werden öfter zu Fuss gehen, selbst für Wege von mehreren Kilometern. Der zweite Trend wird ein neues goldenes Zeitalter des Automobils sein. Zurzeit sind Autos verpönt. Sie gelten als Klimaschädling, Lärmurheber, Stauverursacher und Unfallquelle und zudem als wenig demokratisch. Mit vollautonomen Elektroautos, die auch als günstige Taxis unterwegs sind, wird sich das ändern, und somit auch die Einstellung der Menschen zum Auto.
Martin Schonger ist Volkswirt und hat zuvor an der ETH, der englischen Lancaster University und der amerikanischen Princeton University gelehrt, wo er auch doktoriert hat. Er berät Technologie- und Mobilitätsunternehmen, insbesondere zu den ökonomischen Konsequenzen des vollautomatischen Autos.
Dr. Martin Schonger
Studiengangleiter,
Bachelor of Mobility, Data Science and Economics
Seit September 2020 studieren an der Hochschule Luzern Studierende im Studiengang Mobility, Data Science and Economics. Der interdisziplinäre Studiengang wird von den Departementen Technik & Architektur, Wirtschaft und Informatik gemeinsam in Rotkreuz ZG angeboten.