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Amtszwang in Schweizer Gemeinden: Notwendiges Übel oder überholte Praxis?

Amtszwang in Schweizer Gemeinden: Notwendiges Übel oder überholte Praxis?

Zwang – allein das Wort löst in unserer freiheitsliebenden Gesellschaft Unbehagen aus. In einem Land, das sich seiner demokratischen Werte und individuellen Freiheiten rühmt, erscheint die Vorstellung, in ein öffentliches Amt gezwungen zu werden, geradezu paradox. Doch was geschieht, wenn sich niemand freiwillig für den Dienst an der Gemeinschaft meldet? Hat eine Gemeinde dann überhaupt eine andere Wahl, als auf Zwang zurückzugreifen?

Pflichten in der direkten Demokratie

Die Schweiz liebt ihr Milizsystem. Unsere Demokratie lebt von engagierten Bürgerinnen und Bürgern. Doch Demokratie bedeutet nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Wenn niemand mehr bereit ist, Verantwortung zu übernehmen, gerät eine Gemeinde in eine Krise. Die Alternative zum Amtszwang? Der Kanton übernimmt – und das würde für viele Gemeinden den eigentlichen Kontrollverlust bedeuten.

Warum gibt es den Amtszwang?

In sieben Kantonen – darunter Wallis, Uri, Solothurn, Luzern, Zürich, Nidwalden und Appenzell-Innerrhoden – existiert der Amtszwang als Notlösung. Er ermöglicht es den Gemeinden, Bürgerinnen und Bürger gegen ihren Willen in öffentliche Ämter zu berufen, wenn sich keine Freiwilligen finden lassen. Jüngst sorgte der Fall Wassen im Kanton Uri für Aufsehen: Trotz mehrfacher Wahlgänge fanden sich keine Kandidatinnen oder Kandidaten, weshalb zwei Personen gegen ihren Willen ins Amt berufen wurden – eine nahm an, die andere lehnte ab.

Quelle: Adobe Stock

Gibt es Alternativen?

Menschen gegen ihren Willen zu verpflichten, klingt problematisch. Unmotivierte oder überforderte Amtsträger können ineffizient arbeiten. Doch wenn niemand Verantwortung übernimmt, kann eine Gemeinde nicht regiert werden. Der Kanton muss eingreifen, was letztlich auf eine Entmündigung der Gemeinde hinausläuft. Doch gibt es Alternativen?

Um den Amtszwang zu vermeiden, sollten Gemeinden attraktive Rahmenbedingungen schaffen, damit sich wieder mehr Menschen freiwillig engagieren. Dazu gehören:

  • Attraktivere Milizämter: Höhere Entschädigungen, steuerliche Vorteile  oder Zusatzleistungen können das Amt attraktiver machen. Doch gerade kleine oder finanzschwache Gemeinden können sich solche Massnahmen kaum leisten.
  • Erweiterung des Kandidatenpools: Die Zulassung von Nicht-Schweizerinnen und -Schweizern oder die Aufhebung der Wohnsitzpflicht könnten helfen, setzen aber Akzeptanz in der Bevölkerung voraus.
  • Organisatorische Reformen: Die Professionalisierung der Gemeindeverwaltung, stärkere Formen der interkommunalen Zusammenarbeit bis hin zu Teilfusionen könnten die Arbeitsbelastung reduzieren und die Verwaltungsstrukturen effizienter gestalten. Gerade bei den Führungsmodellen besteht viel Optimierungspotenzial. Welche Grundmodelle zur Auswahl stehen und wie sich diese adaptieren und umsetzen lassen, verrät unser neues Handbuch «Gemeindeführungsmodelle in der Deutschschweiz», das im Frühjahr 2025 publiziert wird.

Trotz diskutierten Reformansätzen bleibt festzuhalten: Der Amtszwang ist ein Symptom für eine tiefere Krise des Milizsystems. Solange sich genug Freiwillige engagieren, ist er theoretisch. Doch schwindet der Gemeinsinn, bleibt oft nur der Zwang – oder die Aufgabe der Gemeindeautonomie zugunsten kantonaler Verwaltung. Wollen wir das? Oder sollten wir politisches Engagement in unserer direkten Demokratie vielmehr wieder als Ehre statt Last begreifen?


Handbuch: «Gemeindeführungsmodelle in der Deutschschweiz»

Schweizer Gemeinden kämpfen mit wachsender Komplexität ihrer Aufgaben und Schwierigkeiten bei der Rekrutierung von Exekutivmitgliedern. Dieses Handbuch analysiert die Führungsmodelle von über 600 Gemeinden in der Deutschschweiz und präsentiert innovative Anpassungsstrategien.

Veröffentlicht am: 18. März 2025

Autor: Jonas Willisegger

Leiter Kompetenzzentrum Public & Nonprofit Management, Institut für Betriebs- und Regionalökonomie IBR
+41 41 228 99 81 jonas.willisegger@hslu.ch

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