Arbeits- & Organisationspsychologie
Lesezeit 5’ Minuten // Ein Beitrag von Dr. Philipp Wegelin
In diesen Momenten steht die Welt still – es geht um alles oder nichts. Ein entscheidender Penalty, die Schlussrunde, der letzte Versuch – Situationen, die über Sieg oder Niederlage entscheiden. Als Zuschauer*innen fiebern wir mit, sind angespannt und nervös. Manchmal ist es auch zum Haare raufen, weil wir das Geschehen nicht beeinflussen können. Im Gegensatz dazu die Sportler*innen, die mit ihren Handlungen den Sieg herbeiführen oder die Niederlage verschulden können. Sie stehen unter enormem Druck, den Hoffnungen und Erwartungen an ihre Leistung gerecht zu werden.
Es sind solche Momente, die den Sportfans ewig in Erinnerung bleiben. Viele Ü35 mögen sich an das Penaltyschiessen zwischen England und Deutschland im Halbfinale der Europameisterschaft 1996 erinnern, als Gareth Southgate (Vgl. Titelbild) seinen – entscheidenden – Versuch vom Deutschen Goalie Andreas Köpke gehalten sah. Aus! Vorbei! Eine ganze Nation brach in Tränen aus. Drei Jahre später ereignete sich anlässlich des Major Golfturniers «British Open» etwas, das bis heute von vielen als Paradebeispiel für Versagen in einer Drucksituation betrachtet wird. Der französische Golfer Jean van de Velde liegt vor dem letzten Loch mit drei Schlägen Vorsprung in Führung. Er gibt diesen Vorsprung, der als eigentlich unverlierbar gilt, jedoch tatsächlich noch preis (und erlangt damit wohl mehr Berühmtheit, als er das durch den Sieg getan hätte).
Situationen, in denen Menschen unter starkem Leistungsdruck stehen, gibt es jedoch längst nicht nur im Sport. So steht z.B. unter Druck, wer eine Präsentation vor einem grossen und/oder kritischen Publikum hält, eine Prüfung schreibt, zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen ist, eine Sprengladung entschärft oder einen schwierigen chirurgischen Eingriff vornimmt. Auch im privaten Bereich tauchen Drucksituationen auf, sei es in einem schwierigen Gespräch oder beim Einparken in eine enge Parklücke in einer belebten Strasse.
Wie sich Menschen in solchen Drucksituationen verhalten, hat u.a. Ökonom*innen und Psycholog*innen seit jeher beschäftigt. Das Standardmodell der Ökonomie postuliert, dass sich Menschen bei der Ausübung einer Tätigkeit mehr anstrengen, wenn der erwartete Nutzen bzw. der erwartete Ertrag aus dieser Tätigkeit steigt (Morgulev & Galily, 2018). Entsprechend sollte die Leistung besser werden, wenn es beispielsweise viel zu gewinnen oder viel zu verlieren gibt. Passiert hingegen das Gegenteil, sinkt also die Leistung, spricht man in der Literatur von «Choking under Pressure», was sinngemäss mit Versagen in Drucksituationen übersetzt werden kann.
Es gibt verschiedene Faktoren, die zu «Choking» beitragen können. Gemäss Dohmen (2008) sind das beispielsweise
Weiter sind primär Tätigkeiten mit kognitiven Elementen von «Choking» betroffen. Unter Druck können Menschen zu kopflastig agieren, d.h. Automatismen und Intuition werden durch Nachdenken ersetzt, was zu Leistungsabfall führen kann (Harb-Wu & Krumer, 2019; Morgulev & Galily, 2018).
Soweit die Theorie. Wie kann nun die Wissenschaft Verhalten in Drucksituationen empirisch erfassen? Häufig sind solche Situationen stark vom Kontext abhängig und nur schwierig beobachtbar, geschweige denn messbar. Eine Möglichkeit besteht in Labor- oder Feldexperimenten. Erstere schaffen allerdings eine künstliche Umgebung und sind deshalb nicht ohne Weiteres auf die Realität übertragbar (Dohmen, 2008; Morgulev & Galily, 2018). Letztere sind aufwändig und es bleibt häufig das Problem der Messbarkeit.
Hier kommt der Wettkampfsport als Reallabor ins Spiel («Sports as a Laboratory»). Die Vorzüge sind offensichtlich: Erstens finden sportliche Wettkämpfe in einem kontrollierten Setting statt. Die Regeln sind klar definiert und gelten für alle. Gleiches gilt für den Rahmen (z.B. Spielfeld oder Skipiste). Die Tätigkeiten sind in der Regel stark standardisiert und werden regelmässig ausgeführt (Morgulev & Galily, 2018). Zweitens ist das Ergebnis meist eindeutig messbar. Ein Penaltyschütze kann den Penalty verwandeln oder nicht. Die Zeit, die eine Skifahrerin für ihren Lauf benötigt, wird bis auf die Hundertstelsekunde gemessen. Drittens herrschen Wettbewerbsbedingungen und daher starke intrinsiche Anreize, eine gute Leistung zu erbringen. Letzteres wird verstärkt durch extrinsiche Anreize (z.B. Siegesprämie oder Prestige).
Im Folgenden stelle ich ein paar ausgewählte empirische Studien vor, die «Choking» im Reallabor Wettkampfsport untersuchen.
Es liessen sich noch viele weitere Studien zitieren, die das Verhalten von Menschen in Drucksituationen zum Gegenstand haben. Diese Forschungsarbeiten zeigen, dass die Voraussagen des Standardmodells nicht in jedem Fall zutreffen. Für die Praxis ist dieses Wissen wichtig. Wenn wir verstehen, weshalb wir in Drucksituationen versagen, können wir entsprechend darauf reagieren. So hat die englische Fussball Nationalmannschaft den «Penalty-Fluch» anlässlich der Weltmeisterschaft in Russland 2018 überwunden, in dem sie gezielt darauf trainiert und mit einem Mentaltrainer zusammengearbeitet hat. Der Trainer hiess damals (wie heute) übrigens: Gareth Southgate.
Philipp Wegelin
Dr. Philipp Wegelin ist seit 2012 Dozent und Projektleiter an der HSLU. Seine Forschungsinteressen liegen in der Verkehrsökonomie und Sportökonomie. Die beiden auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen Bereiche haben jedoch (mindestens) drei gemeinsame Nenner: Die Ökonomie als Wissenschaftsdisziplin, (angewandte) quantitativen Methoden als methodologischer Zugang, und «last but not least», das persönliche Interesse von Philipp Wegelin an Verkehr, Mobilität und Sport.
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