Coliving in der Schweiz – eine Wohnform der Zukunft?

Coliving in der Schweiz – eine Wohnform der Zukunft?

Während «Coliving» in der Schweiz noch in den Kinderschuhen steckt, wächst das Angebot im Ausland rasant. Doch was genau versteht man unter Coliving? Ein Einblick in die Weiterentwicklung des gemeinschaftlichen Wohnens, welche in den nächsten Jahren auch auf die Schweiz zukommt.

Basierend auf den Erkenntnissen, welche im Rahmen einer Bachelorarbeit an der Hochschule Luzern Wirtschaft gewonnen wurden.

Im Nordwesten von London, etwa 20 Minuten vom Zentrum entfernt, steht ein mehrstöckiges, graues Gebäude. Eigentümerin ist die Immobilienfirma The Collective, welche im Jahr 2010 an der LSE University in London gegründet wurde. Mit der Liegenschaft Old Oak bietet sie seit 2016 über 500 Personen ein Zuhause in einem sogenannten Coliving. Das Wort Coliving lässt an Coworking denken – Arbeiten in der Gemeinschaft. Doch anstelle von Arbeitsplätzen wird in einem Coliving zusätzlich Wohnraum geteilt. Wie dies aussehen kann, zeigt sich in London.

Wohnen wie im Hotel

Im grosszügigen Entree des Old Oak befindet sich eine Reception, dazu Sessel und Sofas, auf denen vereinzelt Menschen mit Laptops auf den Knien sitzen und konzentriert auf ihre Bildschirme starren. Das Restaurant auf der gleichen Etage ist sowohl für Mieterinnen und Mieter als auch für auswertige Gäste aus der Gegend geöffnet und soll einen Austausch zwischen den beiden Gruppen ermöglichen. Im Unterschied zu anderen Wohnungen, welche The Collective in London anbietet, beinhaltet das Coliving Old Oak Annehmlichkeiten, die an ein Hotel erinnern. So bewohnen die Menschen komplett möblierte Zimmer, je nach Preiskategorie mit eigenem Bad und/oder kleiner Teeküche. Die Mietkosten beinhalten den Reinigungsservice sowie die Mitbenutzung sämtlicher Gemeinschaftsräume. Um nur einige davon aufzuzählen: Es gibt eine Bibliothek, eine Dachterrasse, voll ausgestattete Gemeinschaftsküchen, ein Spa und Gym, einen Yogaraum und sogar einen Kino- und Spielraum. Weiter ist ein sogenannter Community Manager Tag und Nacht für die Gäste verfügbar.

Im Gegensatz zu einem Hotel wird in einem Coliving wie dem Old Oak die Community, die Gemeinschaft, grossgeschrieben. Während in einem Hotel der Austausch zu anderen Gästen auf ein Mini-mum reduziert wird, wird er in einem Coliving – beispielsweise durch den Community Manager – aktiv gefördert. Zudem wird das Arbeiten vor Ort durch den Coworking Space ermöglicht, der sich abends in eine Eventlocation verwandeln lässt. Ein weiterer Unterschied im Vergleich zu einem Hotel ist die lange Mietdauer – so unterzeichnen Mieterinnen und Mieter des Old Oak einen Vertrag über 12 Monate. Diese Massnahme soll bei der Bildung der Gemeinschaft förderlich sein, da eine solche bei über 500 Personen gar nicht so einfach zu formen und zu pflegen ist. Die Zielgruppe von Old Oak lässt sich schwer auf einen bestimmten Typ runterbrechen. Auffallend ist aber, dass etwa 75 Prozent der Mieterinnen und Mieter zwischen 25 und 35 Jahren alt sind, folglich handelt es sich um ein relativ junges Publikum.

Das Coliving Old Oak in London ist nur eines von vielen Colivings, die in den letzten Jahren in Europa entstanden sind. Im Rahmen einer Bachelorarbeit zu diesem Thema wurden zehn verschiedene Colivings genauer auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten untersucht. Danach war es möglich, eine Definition aufzustellen, um ein Coliving etwas besser zu kategorisieren:

Ein Coliving ist ein Heim auf Zeit, voll möbliert, mit hotelähnlichen Annehmlichkeiten wie Reinigungs- oder Wäscheservice. Die Zielgruppe besteht aus meist jungen, flexibel arbeitenden Menschen, die Wert auf Gesellschaft und Austausch legen und dennoch unabhängig sein möchten. Gleichzeitig eignen sich Colivings auch für «Retreats», welche an Teams gerichtet sind. Eine Mindestaufenthaltsdauer ist meist vorgegeben und ermöglicht das Entstehen einer Community. Besonders in städtischen Colivings beträgt die Mindestmietdauer einen Monat oder, wie im The Collective Old Oak, sogar zwölf Monate. Gemeinschaftsräume ermöglichen es den Bewohnenden, gemeinsam zu kochen, zu essen und anderweitig Zeit miteinander zu verbringen. Die nötige Privatsphäre wird durch kleine Mikro-Apartments oder, je nach Standard, auch durch Mehrbettzimmer gewährleistet. Gut ausgestattete Coworking Spaces sind vorhanden und regelmässig stattfindende Events ermöglichen den Bewohnenden Knowhow-Austausch sowie Netzwerken.

Besonders auffällig bei der Betrachtung der verschiedenen Colivings waren die Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Angeboten. Sie unterscheiden sich vor allem in Bezug auf die Aufenthaltsdauer (welche in städtischen Colivings meist auf ein Minimum von einem Monat fest-gelegt ist) sowie auf die Ausstattung der Räumlichkeiten. Ländliche Colivings werden meist für kür-zere Zeit besucht und eignen sich besonders für sogenannte «Retreats» (ein Rückzug von der ge-wohnten Umgebung für eine bestimmte Zeitdauer) oder «(Co)workations».

«Cowor…» – was?

Coworkation setzt sich zusammen aus den englischen Worten «Coworking» und «Vacation», also Urlaub. Eine Coworkation ist folglich die Vermischung von Urlaub und Arbeit, wie Nectarconectar, ein Colivingangebot, beschreibt:

“A workation is a new concept of remote working. It’s all about getting stuff done from inspiring places. And meeting like-minded people, who are curious about, or already living a locationindependent life” (Nectarconectar, online).

Die Zielgruppe für (Co)workation sind sogenannte «location independent professionals», also Menschen, die ortsungebunden arbeiten können. In letzter Zeit wird diese Zielgruppe vermehrt mit dem Begriff «digital Nomads» beschrieben. Die in der Beschreibung erwähnten abgeschiedenen und inspirierenden Orte sind beispielsweise Bali oder Thailand – oder aber: die Schweiz.

Ist für diese neue Wohnform in der Schweiz ein Markt vorhanden?

In der Schweiz existiert bisher ein ländliches Coliving, das Swiss Escape in Grimentz, im Kanton Wallis. Die Betreiber des Swiss Escape konzentrieren sich gleich auf zwei Zielgruppen: So wird das Swiss Escape im Winter von Individualgästen bewohnt, die einen Monat oder länger bleiben. Die Betreiber beschreiben diese Zielgruppe als Menschen, die ortsungebunden arbeiten und über ein hohes Einkommen verfügen. Im Sommer beträgt die Aufenthaltsdauer hingegen meist nur eine Woche und die Zielgruppe besteht aus Firmen. Diese verbringen mit ihren Teams im Rahmen eines Retreats oder einer Coworkation eine Woche in den Bergen und hoffen auf Inspiration und gestärkten Teamgeist, abseits der täglichen Routine.

Ein Coliving wie das oben beschriebene Old Oak existiert in der Schweiz (bisher) nicht. Es gibt aber Entwicklungen, welche in diese Richtung gehen. So sind in den letzten Jahren einige Genossenschaften entstanden, welche sich mit unterschiedlichen Wohnmodellen auseinandersetzen. Die Genossenschaft Hunziker Areal im Norden von Zürich etwa, welche ihren 1300 Bewohnerinnen und Bewohnern eine grosse Auswahl an Wohnmöglichkeiten bietet: vom Studio über Mehrzimmerwohnungen, Wohnateliers und Satellitenwohnungen. Das Entstehen einer Gemeinschaft wird beim Hunziker Areal auch durch mehrere Allmendräume (Räume, welche alle Bewohnerinnen und Bewohner kostenlos nutzen dürfen) gefördert. Partizipation und Inklusion, etwa durch das Engagement in verschiedenen Quartiergruppen oder den Gemeinschaftsgärten, wird grossgeschrieben. Das Areal bietet zudem Gewerberäumlichkeiten an, die teilweise von Bewohnenden gemietet werden. Diejenigen Menschen, die im Hunziker Areal wohnen und arbeiten, leben also bereits eine Art von Coliving. Zudem wird mit grossen Clusterwohnungen mit 12.5 Zimmern auf einen Trend reagiert, welcher sich in den letzten Jahren in Schweizer Städten abgezeichnet hat: dem Trend zu «Single Living».

Single Living in der Gross – WG

Coliving_Social-Community

Gerade in Zentren mit hohen Mietpreisen und tiefer Leerwohnungsquote, wo günstige Wohnungen also Mangelware sind, bieten sich sogenannte Clusterwohnungen an. In einer Clusterwohnung verfügen die Bewohnenden über kleine Einzelapartments, welche meist eine eigene Kochnische und Nasszelle aufweisen, und teilen sich Gemeinschaftsräumlichkeiten wie Küche, Wohnzimmer, Dachterrasse oder Hobbyraum. Die Bewohnenden haben somit die Gelegenheit, mit ihren Mitbewohnern zu kommunizieren und interagieren, können sich aber gleichzeitig bei Bedarf in ihre eigenen Räumlichkeiten zurückziehen. Die Satellitenwohnungen unterscheiden sich aber immer noch stark von Coliving, wie es im Rahmen der Bachelorarbeit definiert wurde: So sind in einem Coliving die Zimmer bereits möbliert und die Mietdauer ist zeitlich begrenzt. Zudem spielt in einem Coliving die Möglichkeit, vor Ort zu arbeiten, eine weitere wichtige Rolle. Aktivitäten und Events sind stark darauf ausgerichtet, das berufliche Netzwerk der Bewohnerinnen und Bewohner zu vertiefen. Gemeinsam ist dem Coliving und der Clusterwohnung aber der Community-Aspekt und das Teilen von Raum und Gegenständen.

Beruflich profitieren durch Coliving

Clusterwohnungen sprechen heute nicht nur Studenten an, sondern verschiedenste Altersklassen. So gibt es im Hunziker Areal Mehrgenerationenwohnungen, bei denen gerade der Austausch zwischen Alt und Jung als sehr wertvoll empfunden wird. Das Teilen von Raum hat in den letzten Jahren folglich bei unterschiedlichsten Menschen an Akzeptanz gewonnen und wird als spannendes Zukunftsmodell betrachtet. Es ist eine Reaktion auf den demografischen Wandel in unserem Land, aber auch eine logische Konsequenz der Sharing Economy-Bewegung, welche das Teilen von Gütern und Dienstleistungen salonfähig gemacht hat. Unternehmen wie Airbnb haben diese Bewegung noch weiterentwickelt und ermöglichen seit einigen Jahren das Teilen von Wohnraum. Aus dem grossen internationalen Erfolg der Firma lässt sich schliessen, dass das Teilen von Wohnraum in der Bevölkerung auf immer mehr Akzeptanz stösst, besonders in den Städten.

Das Teilen wird so zum Symbol einer nachhaltigen Wohn- und Lebensweise.

Ein Coliving in der Grösse des Old Oak wird in der Schweiz in nächster Zeit wohl nicht entstehen. Dies, weil es mit vielen Auflagen und sehr hohen Investitionen verbunden wäre, ohne dabei auf Erfahrungswerte bauen zu können. Wahrscheinlicher ist hingegen, dass hier und da kleine Coliving-Angebote entstehen werden, etwa in Form von Wohngemeinschaften, die ein oder zwei möblierte Zimmer an Interessierte vermieten. Dabei könnten themenspezifische Events organisiert werden, von denen alle Bewohnenden profitieren. Dies ist vermutlich am ehesten der Fall, wenn die Bewohnerinnen und Bewohner ähnliche berufliche Hintergründe aufweisen. Dies ist gar nicht so abwegig, wenn man die Entwicklungen im Coworking-Bereich betrachtet. Auch dort ist eine Veränderung in Richtung themen- bzw. berufsspezifischer Coworking Spaces zu beobachten. Dies leuchtet ein, da man als Mitglied eines Coworking Spaces mehr von Menschen aus einer verwandten Branche profitieren kann. Diese Idee auch in den Wohnbereich zu übertragen und somit die Etablierung von Coliving zu fördern, ist durchaus vorstellbar. Die Gefahr, dabei eine Art Bubble zu kreieren, in der die berufliche Tätigkeit auch bestimmt, mit wem man wohnt und sich austauscht, sollte dabei nicht unterschätzt werden.

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