Von Eye-Tracking bis Mobile Diary: Aktuelle Trends in der qualitativen Marktforschung

Von Eye-Tracking bis Mobile Diary: Aktuelle Trends in der qualitativen Marktforschung
Foto von Jason Goodman auf Unsplash

Ein Interview mit Bill Bachmann von LINK. Bill Bachmann ist Senior Research Consultant bei der LINK, der Schweizer Marktführerin in der Markt- und Sozialforschung. Der studierte Betriebswirt brennt für die die qualitative Forschung und lehrt als Gastdozent im Modul «Qualitative Onlineforschung» an der HSLU-W im Bachelor-Studiengang. Im Interview spricht er über aktuelle Trends in der Marktforschung wie bspw. Eye-Tracking und beschreibt, wie Forschungsfrage, Forschungsdesign und Methodenwahl die praxis- und lebensnahe Forschung der LINK bestimmen. Seine Beispiele aus dem Unternehmensalltag zeigen, dass qualitative Forschung unverzichtbar ist für die Entwicklung von Produkten und Dienstleistungen in Unternehmen.

Bill Bachmann
Senior Research Consultant LINK Qualitative

Bill, erzähl mal, was fasziniert Dich an qualitativen Methoden?

Ich finde die qualitative Forschung spannend, weil man sehr offen an Fragestellungen rangehen muss und sehr explorativ arbeiten kann. Auch bei leitfadengestützten Interviews lässt man sich auf ein Gespräch ein, wo man weiss, dass es einen in eine völlig andere Richtung führen kann. Und das lässt man zu, denn da können ja sehr interessante und unerwartete Insights gewonnen werden.

Besonders faszinierend ist der Kontakt mit der Zielgruppe. Man arbeitet sich in Branchen und Tätigkeitsfelder ein, die einem vorher völlig unbekannt waren und lernt unglaublich viel. Die qualitativen Methoden bilden auch eine tolle Ergänzung zur quantitativen Forschung. So kann man z.B. bei Ergebnissen aus grossen quantitativen Projekten nachfragen und in die Tiefe gehen. Oder umgekehrt: wir ermitteln qualitativ die Bedürfnisse einer bestimmten Zielgruppe und validieren diese dann mit quantitativen Methoden.

Welche Rolle spielen Forschungsfragen bei euren Kundenprojekten?

Die Formulierung der Forschungsfrage ist extrem wichtig, weil damit klar die Erwartungshaltung des Kunden gemanagt wird. Im Briefing oder Kickoff versuchen wir, zusammen mit dem Kunden die Forschungsfrage festzulegen und im besten Fall kommt die Forschungsfrage schon proaktiv vom Kunden selbst. Wir hatten auch schon Situationen, in denen wir das mit dem Kunden nicht gemacht und eher offengelassen haben. Und dann hatte der Kunde andere Erwartungen und wollte einen anderen Bereich oder andere Insights, als die wir erhoben und generiert haben. Durch die Festlegung von Forschungsfragen stellen wir sicher, dass wir auf der gleichen Seite stehen, dass klar ist, was wir erforschen wollen.

Die Challenge der Forschungsfrage:

Was hat sich in den letzten Jahren in der Zusammenarbeit mit euren Kund:innen verändert?

Wir kommen immer mehr weg von der reinen Datenerhebung und bringen uns stärker in die Beratung ein, d.h. wir versuchen in Workshops zusammen mit den Kund:innen die nächsten Schritte zu definieren und klären z.B. die Frage «Wie kann das Produkt an den Markt gebracht werden oder wie kann die Dienstleistung weiterentwickelt werden?» Eine weitere neue Aufgabe ist es, die Ergebnisse so zu vermitteln, dass die Person auf Kundenseite in der Lage ist, diese intern auf verschieden Abteilungen weiterzugeben. Um Verständnis und Akzeptanz für die Forschung zu schaffen, ist es wichtig zu überlegen, wie die Ergebnisse kommuniziert und visualisiert werden sollen. Dem Kunden bzw. der Kundin werden keine langen Ergebnisberichte mehr geschickt, sondern Erkenntnisse sollen auf wenigen Slides sichtbar gemacht werden und die Detailergebnisse können dann entsprechend nachgeschlagen werden.

Welchen Stellenwert haben die Online-Methoden bei euch?

Am Anfang haben wir gedacht, dass unsere klassischen Methoden ersetzt werden. Aber das ist gar nicht der Fall gewesen, es hat uns eigentlich noch mehr Möglichkeiten gegeben. Klassiker, wie Fokusgruppen oder Tiefeninterviews vor Ort können mit Online Blogs, Online Communities oder mobilen Tagebüchern nicht ersetzt werden. Ich glaube, es gibt uns einfach mehr Möglichkeiten, das Verhalten zu beobachten. Wo früher vor allem ethnographische Interviews zur Beobachtung von Verhalten eingesetzt wurden, können wir heute auf eine Vielzahl anderer Methoden zugreifen, wie bspw. Online-Blogs und Mobile-Diaries, bei welchen sich die Teilnehmer dokumentieren. Insofern haben uns die Online-Methoden eher eine neue Tür aufgemacht.

Wie setzt ihr mobile Tagebücher ein?

Tagebücher werden als Selbstdokumentation eingesetzt, um Verhalten im Feld zu beobachten. Bei den mobilen Tagebüchern nutzen die Proband:innen auf vielfältige Weise Apps, mit denen sie täglich dokumentieren, wie sie den Konsummoment erleben. Die Teilnehmenden schreiben und nehmen ihre Gedanken per Tonaufnahme auf. Ausserdem können sie Fotos und Videos einpflegen, mit denen sie spontan Konsumerlebnisse dokumentieren.

Wenn man hingegen in einer Fokusgruppe versucht, die Teilnehmenden ein Konsumerlebnis beschreiben zu lassen, das zwei oder drei Wochen zurückliegt, dann werden wir nicht unbedingt ein realistisches Bild erhalten, da wir zu sehr auf ihre Erinnerung vertrauen. Daher sind wir überzeugt, dass die mobilen Tagebücher ein authentisches Bild des Konsumerlebnisses wiedergeben. Sie verschaffen uns einen direkten Einblick in den Konsumalltag der Teilnehmenden, da die Erlebnisse direkt in dem Moment erfasst werden, in dem der Konsum erlebt wird.

Ist es wirklich authentisch, dass Kund:innen im Supermarkt ihre Konsumeindrücke auf dem Smartphone dokumentieren? Was macht Ihr, um wirklich Authentizität zu gewährleisten?

Im Grunde genommen ist es eine Frage der Qualität. Wie gewährleisten wir die Qualität bei der Erhebung mit mobilen Tagebüchern? Mobile Tagebücher kommen bei Studien über einen längeren Zeitraum von zwei bis drei Wochen zum Einsatz. Wir haben tatsächlich die Erfahrung gemacht, dass die Teilnehmenden am Anfang recht zurückhaltend mit diesem Dokumentationsmedium umgehen. Die ersten Aufzeichnungen wirken daher oftmals etwas konstruiert und gestellt. Die Anfangsskepsis wird aber nach den ersten Tagen abgelegt und die Aufzeichnungen authentischer.

Gibt es weitere digitale Tools, die Ihr in der Verhaltensbeobachtung einsetzt?

Eine weitere Methode, mit der das Verhalten von Proband:innen beobachtet werden kann, ist Eye-Tracking. Eye-Tracking ist eine Methode zur Aufzeichnung der Blickbewegung, z. B. bei der Betrachtung von Werbeanzeigen oder Werbespots. Wir setzen es ein, um Verhalten von Kund:innen im Supermarkt zu beobachten und zu analysieren. Die Teilnehmenden tragen dabei eine Eye-Tracking-Brille. Es wird gemessen und aufgezeichnet, wie lange das Auge auf einem bestimmten Punkt verharrt, in welcher Weise, wie oft und wie schnell sich die Augen bewegen und in welcher Reihenfolge die einzelnen Elemente eines Produktes, einer Produktanordnung oder eines Werbemittels betrachtet werden. Es wird eine Mapp der Umgebung erstellt, und auf dieser Mapp wird der Sichtverlauf nachgezeichnet. Das heisst, man kann im Nachgang erkennen, wohin der Blick wie oft und mit welcher Intensität hingegangen ist. Anhand vom Sichtverlauf können wir analysieren, was gut funktioniert und was eher nicht. Wo bleibt der Blick hängen, gibt es Irritationen, wann und wie lange treten diese auf?

Mehr über Eye-Tracking:

Im Anschluss schauen wir uns die Aufnahmen mit den Teilnehmenden an. Ergänzend vertiefen wir dann im Rahmen von Interviews das Einkaufserlebnis und können an ihr Erlebnis anknüpfen. In einem Projekt zur Sortimentsgestaltung haben wir beispielsweise gefragt, wie sie sich die ideale Sortimentsgestaltung vorstellen. Nach einer intensiven Auseinandersetzung mit der Sortimentsgestaltung entwickeln die Teilnehmenden Ideen, die für unsere Kund:innen hochinteressant sind. Besonders interessant ist, dass mehrere Sichtverläufe mehrerer Erhebungen übereinandergelegt und verglichen werden können. Das erlaubt uns, Muster zu erkennen.

Neben der Eye-Tracking-Brille gibt es auch das Eye-Tracking am Bildschirm, mobile oder am Desktop. Das nutzen wir beispielsweise, wenn es darum geht, Prototypen von Webseiten zu testen.

Eye-Tracking ist eine tolle Ergänzung zum Tiefeninterview. Es kommt vor, dass Aussagen im Tiefeninterview nicht mit dem übereinstimmen, was wir im Sichtverlauf sehen. Das sind wichtige Momente, bei denen wir nachfragen. Uns hilft Eye-Tracking, zusätzliche implizite Erkenntnisse zu gewinnen, welche wir im direkten Austausch mit unseren Probanden besprechen können.

Was macht ihr, um die Akzeptanz des qualitativen Forschungsansatzes bei den Kund:innen zu erhöhen?

Wir versuchen zu zeigen, dass die Forschung sehr lebendig ist und wir überzeugen mit Live-Eindrücken. Wichtig ist, nicht nur Berichte zu schreiben, sondern auch einen Videozusammenschnitt oder Zitate zu integrieren. Was auf jeden Fall hilft, ist, die Kund:innen als Beobachter bei Fokusgruppen oder bei Online-Interviews zuschauen zu lassen. Kund:innen sind immer begeistert, wenn sie die Möglichkeit haben, Fokusgruppen zu beobachten, bei der ihre Zielgruppe zu Wort kommt. Und genau dafür steht ja die qualitative Forschung, dass man nah an den «Beobachtungsgegenstand» kommt und Nuancen wahrnimmt, die in der quantitativen Forschung so nicht abgefragt und abgeholt werden können.

Überzeugen durch Live-Eindrücke:

Was wird künftig wichtig sein in der Marktforschung?

Man muss den Zielgruppen, zum Beispiel der Gen Z, mit dem Format sehr entgegenkommen. Die Zielgruppen müssen dort abgeholt werden, wo sie sich bewegen, bspw. auf Social Media. Auch die Geschwindigkeit ist ein Thema. Wir müssen zu Formaten kommen, in denen mehr Fragen in kürzerer Zeit gestellt werden können. Befragungen müssen interaktiver werden, z.B. mit Nutzung der Mobile Device und der Möglichkeit, Feedback unmittelbar nach dem Konsummoment zu geben. Man kann mittels Pushnachrichten direkt nach dem Konsumereignis Fragen zum Konsumerlebnis stellen.

Tipp für Wissenschaftliche Mitarbeitende und Studierende:

Herzlichen Dank für die spannenden Insights, die Du uns aus dem Unternehmensalltag der Link gegeben hast. Wir wünschen Dir weiterhin viel Freude und Erfolg in der Forschung mit qualitativen Methoden und hoffen, Dich nächstes Jahr wieder als Gastdozent bei uns an der HLSU-W begrüssen zu dürfen.

Autorin: Daphne Zeyen

Dozentin am Institut für Kommunikation und Marketing IKM an der Hochschule Luzern – Wirtschaft.

Autorin: Franziska Kohler

Dozentin in der Bachelor- und Master-Ausbildung an der Hochschule Luzern – Wirtschaft

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