15. Juli 2012
„Nachhaltigkeit“ ist das Schlagwort der Stunde. Wenn wir unsere Umwelt für kommende Generationen in gesundem Zustand erhalten wollen, müssen wir weniger Ressourcen verbrauchen. Im Immobilienbereich scheint das pimär „Minergie“ zu heissen. Aus dem richtigen Bestreben hinaus, Häuser energetisch optimiert zu bauen, wurde das „Minergie“-Label entwickelt und auf breiter Front vermarktet. Damit wurde eine beispiellose Erfolgsgeschiche geschrieben: Das „Minergie“-Label hat sich in der Schweiz zu dem Standard für das Bauen entwickelt. Banken fördern es mit vergünstigten Hypothekarkonditionen. Unternehmen und Behörden schreiben im Leitbild fest, dass ihre Büroräume Minergie-Standards zu genügen haben, Investoren richten ihre Strategie so aus, dass sie nur noch in Minergie-Neubauten investieren dürfen. „Minergie“ hat sich zu einem Quasi-Standard, fast schon zu einer fast unantastbaren Quasi-Religion entwickelt. Das ist angenehm: statt selber zu denken und kreativ zu sein, kann man dem Standard folgen und macht vermeintlich nichts falsch. Das gute Gewissen ist dabei garantiert.
Aber ist Minergie wirklich gleich Nachhaltigkeit? Minergie konzentriert sich letztlich nur auf die Wärmeenergie und vernachlässigt andere Ressourcen. Die Heizenergie ist aber nur ein Teil der durch ein Haus und seine Bewohner konsumierten Ressourcen. Und nicht einmal der knappste. Im Gegenteil: im Sommer haben wir zuviel davon und lediglich im Winter müssen wir Wärme zuführen. Das Problem ist also primär die Wärmeverteilung im Jahresverlauf. Effekte des Standortes und des Benutzerverhaltens werden ausgeklammert. Je nach Standort verursachen die Bewohner jedoch mehr oder weniger Verkehr. Auch die Dichte wird völlig ausser acht gelassen. Der Platzbedarf pro Kopf hat sich seit 1960 fast verdoppelt und wächst weiter. Jeder nicht gebaute Quadratmeter jedoch verbraucht keine Ressourcen, muss nicht geheizt werden und ist somit wesentlich umweltfreundlicher als ein Minergiehaus. Paradoxerweise ist die grosse Minergie-Villa auf dem Dietschiberg, mit zwei SUV in der Garage und 400 qm Wohnfläche für zwei Personen minergiezertifiziert, wird von der Bank bevorzugt finanziert und die Bewohner dürfen mit gutem Gewissen und Stolz behaupten, welch grossen Beitrag sie an die Umwelt leisten, während die Bewohner, die zu dritt eine ältere, schlecht gedämmte 4.5 Zimmer-Wohnung mit 100qm in Luzern in der Nähe des Bahnhofes bewohnen und meist mit dem Bus oder dem Velo zur Arbeit gehen kein Label erhalten und ein schlechtes Gewissen haben weil sie keine „Minergie-Gute-Gewissen-Absolution“ erhalten. Dabei ist ihr Gesamtressourcenverbrauch um ein vielfaches tiefer.
Entwickler und Investoren, die den Mut haben, weiter zu denken, statt einfach der Masse zu folgen haben schon längst bessere und nachhaltigere Konzepte entwickelt. Prof. Leibundgut an der ETH hat sich mit seiner Vision „via gialla“ vom übermässigen Dämmwahn verabschiedet und aufgezeigt, wie überschüssige Energie im Sommer im Boden „zwischengelagert“ und im Winter wieder „geerntet“ werden kann. Ein ähnliche durchdachtes Projekt entsteht zur Zeit in Rotkreuz: die Überbauung Suurstoffi direkt beim Bahnhof gelegen verzichtet bewusst auf die Minergie-Zertifizierung. Trotzdem wird sie im Endausbau zu praktisch 100% energieautark und CO2-frei sein. Die gute Lage direkt beim Bahnhof und der eigene Mobility-Park sorgen dafür, dass der Individualverkehr tief bleibt. Dank dem durchdachten Energiekonzept mit Erdsonden , die im Sommer Wärme speichern und diese im Winter wieder abrufen, können im Sommer sogar ohne zusätzlichen Energieaufwand die Wohnungen und Büros gekühlt werden. Die Wärme-/Kältepumpen werden mit Sonnenenergie direkt vom Dach gespiesen. Die bis heute erstellten 230 Wohnungen weisen über 160 verschiedene Grundrissvarianten auf, so dass auch bei weiterem demografischem Wandel die verschiedensten Mieterwünsche abgedeckt werden können. Das ist wirkliche Nachhaltigkeit.
Minergie war wichtig, um den Prozess der Energieoptimierung anzustossen und Planern, Bauherren und auch dem Gesetzgeber aufzuzeigen, was möglich ist. Aber jetzt ist es Zeit, nicht einfach im Windschatten dieses Labels zu segeln, sondern weiter zu denken und Lösungen zu finden und zu verwirklichen, die wirklich nachhaltig sind. D.h. neben der Heizenergie insbesondere auch Faktoren wie Flexibilität, „graue Energie“, Dichte, Sozialverträglichkeit, Nutzenergie und induzierten Verkehr berücksichtigen. Aber wie schon Henry Ford gesagt hat: „Denken ist die schwerste Arbeit, die es gibt. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum sich so wenige Leute damit beschäftigen.“
(Dieser Artikel erschien am 15.7.2012 in der Zentralschweiz am Sonntag)
Weitere Informationen:
– Verein Minergie
– Prof. Leibundgut EZH: «Via Gialla»
– Nachhaltigkeitskonzept Überbauung «Suurstoffi», Rotkreuz
– Hochschule Luzern: Zentrum für integrale Gebäudetechnik
– Das Nachhaltigkeitskonzept der DGNB (Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen)
– Leed Certification and Green Building
– Ausbildung: «Kompetenz in nachhaltigem Bauen«.
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Kommentare
3 Kommentare
Franz Beyeler
19. Juli 2012
Absender: Franz Beyeler, Geschäftsführer Verein Minergie Die Wahrheit über Minergie Gerne nehme ich die Gelegenheit wahr, ein paar Fakten über Minergie klarzustellen, die Herrn Schmidiger offensichtlich nicht bekannt sind. Minergie ist kein Quasi-Standard, Minergie IST ein Standard, und zwar der in der Schweiz am meisten verbreitete Standard für Bauten mit tiefem Energieverbrauch und mehr Komfort. Angesichts der Tatsache, dass rund 50 Prozent des Gesamtenergieverbrauchs in unserem Land auf den Gebäudebereich entfallen, hat ein Standard für energieeffiziente Bauten selbst dann seine Berechtigung, wenn er sich keine weiteren Nachhaltigkeitskomponenten auf die Fahne geschrieben hat. Offenbar ist Herr Schmidiger mit Minergie nicht allzu sehr vertraut, denn sonst wüsste er, dass Minergie nie Anspruch hatte, umfassende Nachhaltigkeit zu garantieren. Von Anfang an ging es bei Minergie um die Schonung der Ressourcen durch tiefen Energieverbrauch bei gleichzeitiger Steigerung des Komforts. Dass Minergie so erfolgreich ist, liegt unter anderem daran, dass der Produktnutzen (Komfort) den Umweltnutzen enthält, und dass die Mehrkosten im Vergleich zum konventionellen Bauen relativ gering sind. Wir können lange von der Notwendigkeit und vom Nutzen nachhaltiger Gebäude reden, aber die wenigsten Menschen sind bereit, mehr Geld auszugeben oder auf Komfort zu verzichten, damit die Umwelt profitiert. Wer ein Minergie-Haus baut, tut dies in den seltensten Fällen aus Gewissensgründen – und schon gar nicht aus Zwang, denn Minergie ist freiwillig. Menschen bauen nach Minergie, weil sie davon profitieren, unter anderem durch mehr Komfort und Lebensqualität, tiefere Betriebskosten und bessere Werterhaltung des Gebäudes. Wenn das auch der Umwelt zugute kommt – umso besser. Wie Herr Schmidiger zu der Auffassung kommt, Minergie könnte in eine Sackgasse führen, ist mir schleierhaft. Der Standard wurde und wird laufend weiter entwickelt. So berücksichtigt Minergie-Eco zusätzlich gesundheitliche Aspekte wie schadstoffarme Baumaterialien, optimale Tageslichtverhältnisse und gute Rückbaubarkeit des verbauten Materials. Minergie-A, letztes Jahr lanciert, steht für Gebäude, die mehr Energie produzieren, als sie verbrauchen. Minergie ist ein wichtiger Impulsgeber für die Industrie und inspiriert innovative Planer und Architekten zu cleveren Lösungen in verschiedenen Bereichen. Zudem werden Minergie-P Bauten von der Hochschule Luzern HSLU zertifiziert. Die HSLU ist übrigens für uns ein wichtiger Partner für die Weiterentwicklung unseres anspruchsvollsten Standards! Auf der Basis von Minergie-Eco wird derzeit ein nachhaltiger Baustandard für die Schweiz entwickelt, der umfassende Nachhaltigkeitskriterien wie von Herrn Schmidiger gefordert beinhaltet. Im Zusammenhang mit Minergie von «unantastbarer Quasi-Religion» zu sprechen und davon, dass diejenigen, die auf Minergie setzen, zu bequem sind um selber zu denken und kreativ zu sein, spiegelt das Bemühen von Herrn Schmidiger, die Diskussion zu emotionalisieren. Damit ist niemandem gedient. Was wir brauchen, ist eine sachliche Auseinandersetzung mit der Thematik «nachhaltiges Bauen». Alles andere ist quasi kontraproduktiv.
Ernst Reich
17. Juli 2012
Minergie ist nicht in der Sackgasse. Minergie bedeutet vorerst einmal know how im Bereich der Gebäudehüllen (Qualitäten, Probleme etc). Die Erkenntnis, dass Minergie nicht die ganze Wahrheit ist ist ja auch nicht vollkommen neu. Schön ist, dass wir mit via gialla einen aus meiner Sicht wahrscheinlich weitergehenden Denkansatz haben. Und schön ist auch, dass uns ganz offensichtlich die (Denk)arbeit noch lange nicht ausgeht. Ernst Reich
Sackgasse Minergie? | Immobilienmanagement | Scoop.it
15. Juli 2012
[...] „Nachhaltigkeit“ ist das Schlagwort der Stunde. Wenn wir unsere Umwelt für kommende Generationen in gesundem Zustand erhalten wollen, müssen wir weniger Ressourcen verbrauchen. Im Immobilienbereich scheint das pimär „Minergie“ zu heissen. [...]
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