Behinderung und Lebensqualität,
Stellen Menschen mit Behinderung Assistenzpersonen zur Unterstützung im Alltag ein, werden sie damit zu Arbeitgebenden – mit beträchtlichem administrativem und organisatorischem Aufwand. Die Assistenzberatungen der Behindertenorganisationen sollen die Betroffenen in dieser Rolle stärken. Was es braucht, damit dies gelingt, hat Eliane Müller in ihrer Abschlussarbeit zum MAS Sozialarbeit und Recht untersucht.
Ein selbstbestimmtes Leben in einer eigenen Wohnung – genau das soll der 2012 von der IV eingeführte Assistenzbeitrag für Menschen mit einer Behinderung ermöglichen. Mit diesem können Anspruchsberechtigte selbstständig Assistenzpersonen zur Unterstützung im Alltag anstellen.
Der Assistenzbeitrag basiert auf dem Arbeitgeber:innen-Modell. Das bedeutet, dass die Versicherten das Geld für Assistenzleistungen von der IV nur erhalten, wenn sie zu Arbeitgebenden ihrer Assistenzpersonen werden. Die Betroffenen sollen die benötigten Hilfeleistungen in eigener Verantwortung organisieren und gestalten. Der Aufwand dafür ist beträchtlich, besonders dann, wenn Betroffene mit einem höheren Grad an Hilflosigkeit mehrere Assistent:innen brauchen. Damit von der Rekrutierung über die Arbeitsverträge, Einsatzpläne und Lohnabrechnungen bis zur Ferienvertretung alles klappt, können Anspruchsberechtigte eine Assistenzberatung in Anspruch nehmen.
Eliane Müller arbeitet als Sozialarbeiterin in einer Behindertenorganisation und bietet selbst Assistenzberatungen an. Sie hat an der Hochschule Luzern das MAS Sozialarbeit und Recht mit einer Arbeit dazu abgeschlossen, wie die Assistenzberatung Betroffene unterstützt, damit sie sich in ihrer Rolle als Arbeitgeber:innen gestärkt fühlen. «Ich wollte meine eigene Arbeit unter die Lupe nehmen und sehen, was sie bewirkt», sagt die 38-Jährige, die in ihrer Freizeit am liebsten draussen beim Biken, Wandern oder Ski- und Snowboardfahren ist.
Die gesamte Arbeit ist online zugänglich: Assistenz als Schlüssel zu einem selbstbestimmten Wohnen
Die Ausübung der Arbeitgebenden-Rolle ist eine komplexe und verantwortungsvolle Aufgabe. Die IV erteilt daher auf Anfrage der Betroffenen eine Kostengutsprache für die Assistenzberatung. Sie vergütet maximal zwanzig Beratungsstunden. «Mich hat unter anderem interessiert, ob dies ausreicht», erklärt Müller. Deshalb hat sie drei ihrer Klient:innen zu ihren Erfahrungen befragt.
Müllers Fazit: Es braucht mehrere Faktoren, damit ein Leben mit Assistenz überhaupt in Frage kommt. Wichtig seien persönliche Ressourcen, besonders die kognitiven Voraussetzungen, erklärt Müller. «Wenn die Klient:innen zu mir kommen, haben sie sich schon viel Wissen zum Assistenzbeitrag und den damit verbundenen juristischen Anforderungen erarbeitet. Danach müssen sie die weiteren Informationen aus der Beratung verstehen und umsetzen können», sagt sie. Die Assistenzberatung stehe zwar begleitend zu Seite, doch die Endverantwortung für die korrekte Verwendung der Beiträge und die arbeitsrechtlichen Vorgaben trügen die Betroffenen zu 100 Prozent selbst. «Auf Menschen mit einer geistigen Behinderung oder psychischen Erkrankung wirkt sich das Assistenzmodell daher exkludierend aus», erklärt die gebürtige Obwaldnerin. Auch soziale Ressourcen seien enorm wichtig, etwa die tragende Rolle des persönlichen Umfelds. «Ohne die unentgeltliche Unterstützung nahestehender Personen ist das selbstständige Leben mit dem Assistenzmodell für viele Betroffene kaum möglich.» Darauf, so Müller, mache sie die Menschen in ihren Beratungen aufmerksam.
«Ich finde es einerseits kritisch, wie hoch die Hürden auf dem Weg zur Selbstbestimmung sind», sagt Müller. «Gleichzeitig sehe ich auch die andere Seite: Die Idee der persönlichen Assistenz ist ein Bottom-up-Produkt von Menschen mit Behinderung. Vor der Einführung des Assistenzbeitrags wohnten sie entweder in Heimen oder wurden zu Hause betreut. Nach all dieser Fremdbestimmung fordern sie nun Selbstbestimmung und eigene Kontrolle. Das Arbeitgebenden-Modell wird diesen Forderungen gerecht.»
Angesichts der vielen Fragen, die sich für Betroffene stellen, wenn sie den Assistenzbeitrag in Anspruch nehmen wollen, stelle das gesetzlich verfügbare Budget von maximal zwanzig Beratungsstunden allerdings eine grosse Herausforderung dar. «Die Peer-to-Peer-Beratung könnte hier eine Lücke füllen», meint Müller. Sie achtet heute verstärkt darauf, Betroffene zu vernetzen, indem sie etwa auf Vereine von Menschen, welche selbstständig mit dem Assistenzbeitrag leben, aufmerksam macht. Dort könnten Betroffene mit ähnlichen Erfahrungen sich austauschen und gegenseitig coachen.
«Viele Betroffene kennen ihre rechtlichen Ansprüche gar nicht»
Ein grosses Anliegen ist ihr auch, dass sich die Behindertenorganisationen vernetzen und den Asssistenzbeitrag bekannter machen: «Viele Betroffene kennen ihre rechtlichen Ansprüche gar nicht», bedauert Müller. Sie möchte auch weiterhin Assistenzberatungen anbieten. «Was ich im MAS und während meiner Abschlussarbeit gelernt habe, darf jetzt in meiner Beratungspraxis Raum einnehmen.»
Von: Eva Schümperli-Keller
Bild: Adobe Stock
Veröffentlicht: 12. März 2025
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Diese Abschlussarbeit ist im Rahmen des MAS Sozialarbeit und Recht entstanden. Dieses MAS-Programm richtet sich an Fachpersonen mit sozialarbeiterischen Aufträgen im gesetzlichen Kontext. Es vermittelt differenzierte Kenntnisse der für die gesetzliche Sozialarbeit relevanten rechtlichen Rahmenbedingungen, Methoden und Konzepte. Es kann mit oder ohne Vertiefung Kindes- und Erwachsenenschutz abgeschlossen werden.
Weitere Informationen gibt es HIER.
Kommentare
2 Kommentare
Hansurs Gretener, Mitglied Behindertenforum Zentralschweiz bfzs.ch
Wir sind ein Verein mit ausschliesslich Selbstbetroffenen Mitgliedern mit unterschiedlichen Behinderungsformen. 2-3 mal jährlich veröffentlichen wir einen e-Newsletter an EntscheidungsträgerInnen und FachexpertInnen. Dürfen wir diesen Artikel mit Link zur Arbeit von Elian Müller in unserer nächsten Ausgabe aufnehmen? PS Die verwendete Photo als Eyecatcher ist sehr ungeschickt gestellt, denn auf diesen Zwischenabsatz einer Treppe kommt man mit dem Rollstuhl weder von unten noch oben nur umgekehrt obwohl dadurch für den "Passagier" die Gefahr höher ist. Darum gilt die Regel, mehr als 3 Tritte überwindet man nur mit 2 Hilfspersonen.
Roger Ettlin
Lieber Hansurs, selbstverständlich könnt ihr den Link teilen. Es ist sehr gut, wenn das Thema mehr Aufmerksamkeit erhält. Bezüglich des Fotos: Vielen Dank für den Hinweis, das war mir in der Tat nicht bewusst. Das Foto sollte vor allem bildlich die „hohen Hürden“ aus dem Titel ein wenig widerspiegeln.
Danke für Ihren Kommentar, wir prüfen dies gerne.