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Ohne Abschluss, aber unverzichtbar: Quereinsteigende in der Sozialen Arbeit

Ohne Abschluss, aber unverzichtbar: Quereinsteigende in der Sozialen Arbeit

Mit ihrer Bachelorarbeit rücken Anna Michel und Pia Theiler die Rolle von Quereinsteigenden in der Sozialen Arbeit in den Fokus. Die beiden Autorinnen haben einen Diskurs angestossen – über Wertschätzung, Befähigung und den Umgang mit Mitarbeitenden ohne fachliche Ausbildung.

Der Fachkräftemangel macht auch vor der Sozialen Arbeit nicht halt – das zeigt sich etwa bei der Stiftung für selbstbestimmtes und begleitetes Leben (SSBL) mit Sitz in Emmen LU. «In den dreizehn Jahren, in denen ich hier arbeite, ist mir sehr bewusst geworden, dass unser Alltag ohne Quereinsteigende – also Mitarbeitende ohne fachliche Ausbildung – gar nicht zu bewältigen wäre», sagt Anna Michel. Die 29-Jährige absolvierte ihre Grundausbildung zur Fachfrau Betreuung bei der SSBL und schloss berufsbegleitend den Bachelor in Sozialpädagogik an der HSLU – Soziale Arbeit ab.

Der Anstoss zur Bachelorarbeit kam aus der Praxis. «Mich hat schon länger beschäftigt, dass der Alltag oft von ‹Nicht-Fachkräften› getragen wird – und das erstaunlich gut funktioniert. Gleichzeitig müssen wir aber auch die fachlichen Leistungen erbringen, die der Kanton verlangt. Dieser Spagat hat mein Interesse geweckt.», sagt Anna Michel. Gemeinsam mit Studienkollegin Pia Theiler, die im Bereich Arbeitsintegration tätig ist, untersuchte sie, wie Quereinsteigende ihre Aufgaben bewältigen, wie sie wahrgenommen werden – und wie sie sich selbst sehen. Ziel war es, ihre Perspektiven sichtbar zu machen und daraus konkrete Empfehlungen für die Praxis zu entwickeln.

Die Bachelorarbeit Anna Michel und Pia Theiler «Qualifikation in der Sozialen Arbeit während dem Fachkräftemangel» kann hier heruntergeladen werden. Die Arbeit wurde von Karin Stadelmann betreut.

Problematischer Begriff

Eine zentrale Erkenntnis der Arbeit lautet: Es existiert ein Graben zwischen Mitarbeitenden mit und ohne fachliche Ausbildung. Auch der Begriff «Quereinsteiger» ist nicht unproblematisch – beide Seiten empfinden ihn eher negativ. Fachpersonen grenzen sich bewusst davon ab, während Quereinsteigende die Bezeichnung oft als Abwertung ihrer Erfahrung wahrnehmen. Besonders problematisch ist das für jene, die schon seit Jahren im Beruf arbeiten und über umfangreiche Praxiserfahrung verfügen – aber weiterhin als Quereinsteigende gelten. Der Begriff wird dadurch zum Stigma.

Auch der Begriff «Quereinsteiger» ist nicht unproblematisch – beide Seiten empfinden ihn eher negativ. 

Bei Schulungen, Sitzungen oder Entscheidungsprozessen werden meist jene einbezogen, die formell Verantwortung tragen – also Mitarbeitende mit fachlicher Ausbildung. Quereinsteigende, die diese Entscheide später umsetzen, bleiben oft aussen vor. Das kann frustrieren.

Manche Quereinsteigende nehmen sich zudem selbst zurück: «Ich habe ja keine Ausbildung, also zählt meine Meinung weniger», lautet die innere Haltung. Nicht, weil es ihnen an Erfahrung fehlen würde, sondern weil sie ihre Perspektive selbst als weniger relevant einstufen. «Dabei sind es gerade ihre Nähe zum Klientel und ihre alltäglichen Beobachtungen, die wertvolle Impulse für die Weiterentwicklung der Praxis liefern», betont Anna Michel.

Die Untersuchung bestätigte auch ihre persönliche Beobachtung: Organisationen wie die SSBL sind auf Quereinsteigende angewiesen – nicht nur als Übergangslösung, sondern als tragende Säule im Alltag. «Es braucht Leute an der Basis – Menschen, die diesen Beruf ausüben wollen, ohne die Absicht, sich sofort weiterzubilden», sagt sie. «Denn wenn alle ein Studium anstreben würden, wäre das für eine Institution wie die SSBL gar nicht tragbar.»

Die beiden Bachelorabsolventinnen Anna Michel und Pia Theiler
Die beiden Bachelorabsolventinnen Pia Theiler (links) und Anna Michel (rechts)

Sprache überdenken

Doch Erkenntnisse allein reichen nicht. Entscheidend ist, was daraus folgt. «Im Sinne unserer Arbeit versuche ich auch ein Korrektiv zu sein», sagt Anna Michel. Eine wichtige Erkenntnis war dabei die Sprache selbst: «Wir mussten uns eingestehen, dass auch wir als Autorinnen den Begriff ‹Quereinsteigende› teilweise ungenau verwendet haben. Denn wer seit über einem Jahr in diesem Beruf arbeitet, ist längst eingestiegen – auch ohne Abschluss.» Solche Mitarbeitenden bringen oft Erfahrung mit, die fachliche Defizite in vielem ausgleicht.

Statt den Blick auf fehlende Abschlüsse zu richten, brauche es eine differenzierte Sicht auf vorhandene Fähigkeiten.

Diese Reflexion hat Michel auch in ihren Alltag mitgenommen. Seither spricht sie das Thema bewusst an: «Vielleicht habt ihr kein Diplom – aber andere Stärken, die den fachlichen Austausch bereichern.» Das habe im Team spürbare Wirkung gezeigt: «Plötzlich fühlten sich Kolleginnen und Kollegen befähigt, sich einzubringen und an Diskussionen teilzunehmen.»

Statt den Blick auf fehlende Abschlüsse zu richten, brauche es eine differenzierte Sicht auf vorhandene Fähigkeiten. «Wenn jemand musikalisch ist, kann das ein grosser Gewinn für die Arbeit mit Klientinnen und Klienten sein. Darüber kann man sich austauschen – und daraus konkrete Verbesserungen ableiten.» Solche Erfahrungen stärken das Selbstvertrauen und motivieren dazu, sich auch in anderen Bereichen einzubringen.

Veränderung auf mehreren Ebenen

Was im Team begann, hat Kreise gezogen. Anna Michel und Pia Theiler durften ihre Bachelorarbeit unter anderem der HR- und Bildungsverantwortlichen der SSBL vorstellen. Die Rückmeldungen waren positiv – und erste Empfehlungen wurden bereits umgesetzt.

Ein konkretes Beispiel ist das Mentoringprogramm für neue Mitarbeitende. «Früher wurde diese Rolle in der Regel Fachpersonen mit Ausbildung übertragen», erklärt Anna Michel. «Heute werden gezielt auch langjährige Quereinsteigende als Mentorinnen und Mentoren eingesetzt.» Ihre Erfahrung macht sie zu besonders glaubwürdigen und kompetenten Begleitpersonen beim Einstieg.

Solche Anpassungen an der gelebten Praxis mögen klein wirken, doch sie entfalten grosse Wirkung. «Wenn ich als Fachperson bewusst Verantwortung abgebe, wächst das Vertrauen – und plötzlich kann diese Person auch mehr», sagt Anna Michel. Das stärke nicht nur den Zusammenhalt im Team, sondern wirke sich direkt auf die Qualität der Begleitung aus. Die Bachelorarbeit von Anna Michel und Pia Theiler hat letztlich nicht nur eine Lücke sichtbar gemacht, sondern trägt auch dazu bei, sie zu überbrücken.

Von: Ismail Osman
Veröffentlicht: 10. Juni 2025

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Karin Stadelmann HSLU

Prof. Dr. Karin Andrea Stadelmann

Karin Andrea Stadelmann ist FH-Professorin und CC-Leiterin am Institut für Sozialpädagogik und Sozialpolitik der HSLU – Soziale Arbeit. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Betreuung im Alter, strategische Entwicklung in der Alterspolitik, Gesundheitsförderung mit Fokus auf soziale Unterstützung sowie Bildung und Erziehung über die ganze Lebensspanne. Zudem ist sie Luzerner Kantonsrätin und Präsidentin der «Die Mitte Luzern».

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