Behinderung und Lebensqualität,

Erziehung, Bildung und Betreuung,

Weiterbildung

Sexualität darf kein Tabu sein – auch für Menschen mit Beeinträchtigungen

Sexualität darf kein Tabu sein – auch für Menschen mit Beeinträchtigungen

Sexualität ist ein Grundbedürfnis und Teil des Menschseins. Doch für Menschen mit Beeinträchtigungen wird dieses Thema noch oft ausgeblendet. Damit Fachpersonen ihre Klient:innen gut begleiten können, braucht es Wissen, Haltung und geeignete Rahmenbedingungen, erklärt Ledwina Siegrist, Dozentin des CAS Behinderung und Sexualität.

1. Frau Siegrist, sexuelle Selbstbestimmung ist ein Menschenrecht. Für viele Menschen mit Beeinträchtigung ist sie aber noch immer eingeschränkt oder bleibt gar verwehrt. Wie zeigt sich das in der Praxis?

Viele Betroffene stossen auf Tabus, Ignoranz oder Verbote. Manche erleben Grenzverletzungen und sexualisierte Gewalt – oft ohne die Möglichkeit, sich zu schützen oder Gehör zu finden. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass über Sexualität in Institutionen und im Alltag häufig nicht offen gesprochen wird. Doch erst, wenn das Thema ernst genommen und angesprochen wird, können Einschränkungen überwunden und Schutz gewährleistet werden.

2. An wen richtet sich das CAS Behinderung und Sexualität – und welchen Nutzen haben die Teilnehmenden?

Das CAS richtet sich an Fachpersonen in Wohn- und Sonderschulheimen, Werkstätten, im Assistenzsetting, in der Rehabilitation sowie in Therapie oder Beratung. Angesprochen sind alle, die Menschen mit Beeinträchtigungen begleiten. Die Teilnehmenden lernen, wie sie deren sexuelle Selbstbestimmung fördern können. Sie reflektieren ihre eigene Haltung, erwerben Grundlagen der sexuellen Bildung und vertiefen ihr Wissen zu Prävention und Intervention bei sexualisierter Gewalt. Dieses Know-how fliesst direkt in ihre Arbeit ein – sei es bei der Begleitung, bei der Erstellung von Konzepten oder in der Weiterentwicklung von Angeboten.

«Ziel ist eine offene, sensible und selbstbestimmte Sexualpädagogik für alle Menschen.»

3. Wie erkennt man sexuelle Grenzverletzungen, wenn sich betroffene Personen verbal nicht gut ausdrücken können?

Das ist schwierig. Gewissheit gibt es meist nur, wenn Betroffene in einem sicheren Rahmen freiwillig sich mitteilen. Manche Menschen wirken völlig unauffällig, andere zeigen auffälliges Verhalten, ohne Gewalt erlebt zu haben. Hinweise können sein, wenn jemand über längere Zeit ungewöhnlich distanzlos gegenüber Fremden ist oder ungefragt körperliche Nähe sucht. Ein Anzeichen allein beweist noch keine Grenzverletzung. Treten solche Hinweise jedoch wiederholt oder kombiniert auf, sollte man aufmerksam werden, die Person ernst nehmen und professionelle Hilfe hinzuziehen.

Beratung, Kurse und Materialien
Für Eltern, Fachpersonen und Betroffene gibt es verschiedene Anlaufstellen und Materialien, die Orientierung und Unterstützung bieten:

  • Liebi Plus – Beratungsangebot
  • Berner Gesundheit (beges) – Kurse für Eltern und Bezugspersonen von Kindern mit Beeinträchtigung (z. B. Sexualaufklärung und digitale Medien)
  • Love on the Spectrum & Down for Love – Netflix-Serien über Menschen mit Beeinträchtigungen in der Dating-Welt
  • Das bin ich! – App und Buch zur sexuellen Aufklärung für Kinder mit kognitiven Beeinträchtigungen (4–12 Jahre, in 12 Sprachen)
  • Klar und Einfach – Website und App mit Informationen zu Sexualität, Liebe und Körper für Menschen mit Beeinträchtigungen
  • Kinderschutz Schweiz – Informationen zur sexuellen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen
  • Klipp und klar. Deine Sexualität – Deine Rechte – Broschüre für Jugendliche in leichter Sprache
  • Liebelle – Erklärheft zu Pornografie in leichter Sprache
  • Zanzu – Website «Mein Körper in Wort und Bild» in leichter Sprache
  • Verein Ninlil – Empowerment und Beratung für Frauen* mit Behinderung und Gewalterfahrung (mit Infos in leichter Sprache und Videos in Gebärdensprache)

4. Wie können Eltern und Bezugspersonen Kinder mit Beeinträchtigungen darin unterstützen, ihre Grenzen zu wahren?

Kinder sollten lernen, dass jeder Mensch eigene Grenzen hat – auch sie selbst. Eltern und Bezugspersonen können das mit klaren Regeln und einfachen Beispielen vermitteln: «Du entscheidest, wer dich umarmt oder küsst» oder «Niemand darf ohne Erlaubnis in dein Zimmer kommen.» Ebenso wichtig ist, dass Kinder Vertrauen in ihre eigenen Gefühle entwickeln: Wenn sich etwas unangenehm anfühlt, sollen sie «Nein» sagen dürfen – und erleben, dass diese Entscheidung respektiert wird. Entscheidend ist auch, dass die Kinder wissen: Sie tragen niemals Schuld, wenn ihre Grenzen verletzt werden. Eine emanzipatorische Erziehung stärkt Kinder zusätzlich und macht sie weniger manipulierbar. Dadurch lernen Kinder, ihre Grenzen zu erkennen und zu vertreten – eine wichtige präventive Massnahme gegen Grenzverletzungen.

5. Was können Institutionen tun, um die sexuelle Selbstbestimmung zu fördern?

Zentral ist, Sexualität offen zu thematisieren. So können Grenzverletzungen verhindert, eher bemerkt und anschliessend aufgearbeitet werden. Dazu braucht es klare Strukturen: gemeinsame Richtlinien im Team, Schutz- und sexualpädagogische Konzepte, feste Abläufe sowie interne und externe Meldestellen. Ebenso wichtig ist, dass Leitungspersonen Ressourcen bereitstellen – Zeit, Räume und Weiterbildungen. So entsteht eine Kultur des Sprechens, in der Bewohner:innen Schutz und Unterstützung erfahren und ihre Bedürfnisse ernst genommen werden.

Von: Ismail Osman
Veröffentlicht: 21. Oktober 2025

Ledwina Sigrist

Ledwina Siegrist

Ledwina Siegrist ist seit 2023 Dozentin und Projektleiterin an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit. Sie ist Fachperson für sexuelle Gesundheit in Bildung und Beratung (SGCH) und hat einen Masterabschluss in Gender Studies und Erziehungswissenschaften der Universität Basel. In ihrer Lehr- und Forschungstätigkeit verbindet sie Themen der sexuellen Bildung, Inklusion und Menschenrechte. Zuvor arbeitete sie mehrere Jahre bei der Menschenrechtsorganisation Brava in Bern im Bereich Gleichstellung und geschlechtsspezifische Gewaltprävention.

CAS Behinderung und Sexualität

Der CAS richtet sich an Fachpersonen, die Menschen mit Beeinträchtigungen begleiten – etwa in Heimen, Werkstätten, im Assistenzsetting, in der Rehabilitation sowie in Therapie oder Beratung. Der Studiengang vermittelt Grundlagen und Methoden sexueller Bildung sowie vertieftes Wissen zu Prävention und Intervention bei sexualisierter Gewalt. Ein Schwerpunkt liegt auf der Reflexion der eigenen Haltung und der Umsetzung in der Praxis.

Programmstart: 2. Februar 2026
Mehr Infos: Webseite CAS Behinderung und Sexualität

Kommentare

0 Kommentare

Kommentar verfassen

Danke für Ihren Kommentar, wir prüfen dies gerne.