Behinderung und Lebensqualität,
Viele Geschwister von Kindern mit Beeinträchtigung übernehmen Unterstützungsaufgaben. Eine Studie der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit zeigt, wie unterschiedlich sie diese Rolle erleben und was sie brauchen, damit es ihnen gut geht. Projektleiterin Judith Adler hat die Erfahrungen der Geschwister in der Schweiz erstmals systematisch untersucht.
Judith Adler, was war der Anstoss für Ihr Forschungsprojekt zu den Geschwisterkindern?
Der Auftrag kam vom Verein Raum für Geschwister (VRG). Die dortigen Mitarbeitenden erleben in ihrer Arbeit immer wieder, wie gross der Unterstützungsbedarf von Geschwisterkindern ist – aber auch, wie wenig man über ihre Lebensrealitäten weiss. In der Schweiz gab es dazu bisher kaum Forschungsergebnisse. Unsere Studie sollte diese Lücke schliessen und eine verlässliche Basis schaffen, um passende Angebote zu entwickeln.
Welche Gruppen standen im Mittelpunkt Ihrer Untersuchung?
Wir haben sowohl Kinder als auch erwachsene Geschwister befragt. In den meisten Familien, die sich an der Befragung beteiligt haben, lebt ein Kind mit schwerer kognitiver oder Mehrfachbeeinträchtigung.
Was haben Sie durch die Studie über die Lebenssituation der Geschwister erfahren?
Eine der wichtigsten Erkenntnisse ist: Es gibt nicht die eine typische Geschwistererfahrung. Viele unterschiedliche Faktoren haben einen Einfluss auf die Lebenssituation der Geschwister, auch die Situation der Familie, zum Beispiel, in welchen sozioökonomischen Verhältnissen die Familie lebt, wie stark das Kind beeinträchtigt ist – und welche Unterstützung die Familie bekommt. Wenn die Eltern zusätzlich unter finanziellem Druck stehen oder stark belastet sind, wirkt sich das auch auf die Geschwister aus. Manche erleben die Situation als grosse Herausforderung, andere berichten von einer guten Kindheit und liebevollen Eltern.
In der Schweiz gab es bisher kaum Forschungsergebnisse über die Lebensrealitäten dieser Geschwister.
Welche Erfahrungen schildern die Geschwister besonders häufig?
Viele berichten von einem Spannungsfeld: Auf der einen Seite gibt es Gefühle wie Überforderung, Einsamkeit oder das Empfinden, von den Eltern zu wenig gesehen zu werden. Manche nehmen sich stark zurück, um die Eltern nicht zusätzlich zu belasten – was sie in ihrer eigenen Entwicklung beeinträchtigen kann. Sie erleben teilweise auch Schuldgefühle, etwa wenn sie glauben, nicht genug zu helfen. Ein Junge schrieb am Ende des Fragebogens: «Ich möchte einfach, dass mir auch mal jemand zuhört.»
Und trotzdem gibt es auf der anderen Seite auch viele positive Stimmen.
Geschwister erleben im gemeinsamen Aufwachsen auch viele Ressourcen. Viele sprechen von grosser Nähe zum Geschwisterkind mit Beeinträchtigung. Manche werden regelrecht zu «Übersetzer:innen» für ihre Schwester oder ihren Bruder, weil sie deren Sprache und nonverbale Signale besonders gut verstehen können. Manche erzählen, dass sie in diesem gemeinsamen Aufwachsen ihre sozialen Kompetenzen besonders gut entwickeln konnten. Einige der erwachsenen Geschwister sagten, dass sie auch deshalb soziale Berufe gewählt haben.
Was brauchen Geschwisterkinder, damit sie sich in der Familie nicht übersehen fühlen?
Viele wünschen sich, dass die Eltern mit ihnen offen sprechen und klären: Was kannst du übernehmen? Was ist dir zu viel? Was brauchst du? Wichtig ist, dass sie ihre Bedürfnisse ausdrücken können – und dass man ihnen zuhört. Die offene Besprechung der Unterstützungsmöglichkeiten – alle Befragten möchten ihr Geschwister unterstützen – und der eigenen Bedürfnisse scheint zentral für ein gutes Aufwachsen. Hilfreich empfinden viele zudem sogenannte Exklusivzeiten – also Momente nur mit den Eltern, ohne das beeinträchtigte Geschwisterkind. Ein Junge schrieb in der Umfrage: «Eigentlich ist alles gut, weil ich am Abend noch allein mit meinen Eltern bin, wenn mein Bruder schon im Bett ist.»
Es fehlt an Entlastungsangeboten, die bezahlbar, zugänglich und flexibel sind – und die die Familie als Ganzes im Blick haben.
Wie lassen sich die Bedürfnisse der Geschwister ernst nehmen, ohne den Eltern Vorwürfe zu machen?
Viele Eltern erleben hohe Belastungen – das wurde in den Interviews mit den erwachsenen Geschwistern sehr deutlich. Es fehlt dann schlicht die Kraft, allen gerecht zu werden. Ein erwachsenes Geschwister sagten rückblickend: «Wir hätten einfach jemanden gebraucht, der sich zwischendurch um das beeinträchtigte Geschwisterkind kümmert, damit wir als Familie mal durchatmen können.»
Was braucht es, damit Eltern in solchen Situationen besser unterstützt werden?
Es braucht dringend bezahlbare, verlässliche und flexible Entlastungsangebote. Gewisse Angebote gibt es zwar, aber sie sind teuer, zeitlich stark eingeschränkt und oft schwer zugänglich.
Und was brauchen die Geschwister selbst, damit sie sich besser getragen fühlen?
Viele wünschen sich Austausch mit anderen Geschwistern in einer ähnlichen Situation. Der VRG organisiert bereits Geschwistertreffen. Ausserdem wünschen sich viele mehr Wissen – über die Beeinträchtigung selbst, aber im Erwachsenenalter auch über Rechte, Unterstützungsangebote oder Versicherungen, insbesondere dann, wenn sie Begleitaufgaben von den Eltern übernehmen.
Was wünschen Sie sich für betroffene Familien, aber auch gesellschaftlich?
Ich wünsche mir, dass die Geschwisterkinder in der Auseinandersetzung mit dem gemeinsamen Aufwachsen die nötige Unterstützung bekommen. Gleichzeitig dürfen wir die Eltern nicht allein lassen. Es fehlt wie gesagt an verlässlichen Angeboten, die bezahlbar, zugänglich und flexibel sind – und die die Familie als Ganzes im Blick haben.
Text: Ismail Osman
Bild: Getty Images
Veröffentlicht am: 14. November 2025
Zur Studie
Die Hochschule Luzern – Soziale Arbeit hat im Auftrag des Vereins Raum für Geschwister erstmals systematisch untersucht, wie Kinder und Erwachsene ihre Rolle als Geschwister von Menschen mit schweren kognitiven oder Mehrfachbeeinträchtigungen erleben. Neben Online-Fragebögen wurden auch qualitative Interviews geführt. Ziel war es, eine wissenschaftliche Grundlage zu schaffen, auf der passende Unterstützungsangebote für Geschwister entwickelt werden können. Die Forschung zeigt deutlich: Die Lebensrealitäten sind vielfältig und verdienen mehr Aufmerksamkeit, als sie bisher in Forschung, Politik und Praxis erhalten haben.
Die Studie stiess auf viel Resonanz. So wurde auch in der Tagesschau und in der Podcast-Reihe Input des SRF darüber.

Judith Adler ist Dozentin und Projektleiterin am Institut für Sozialpädagogik und Sozialpolitik der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit. Sie ist Teil des Kompetenzzentrums Behinderung und Lebensqualität und Beauftragte der HSLU-Kontaktstelle Barrierefrei studieren. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Lebensqualität von Menschen mit Beeinträchtigungen, dabei unter anderem auch im Themenbereich Behinderung und Alter. Sie verfügt über langjährige Erfahrung in der Entwicklung und Leitung von Projekten im Bereich Sozialpädagogik und Behinderung.
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