In der Soziokultur haben wir es mit Menschen zu tun, auch mit geflohenen. Worauf wir wenig vorbereitet sind, sind nicht die Menschen selbst, weil sie etwa kulturspeziell anders sind. Wir kennen das Asylrecht zu wenig, damit wir uns vorstellen können, unter welchen Umständen sie jetzt hier leben.
Die Krise war schon vor den Flüchtlingen da
Die Flüchtlinge kommen. Und sie sind schon da. In den Medien ist vom Krisenphänomen die Rede, von Krisenbewältigung. Die Krise verursachen nicht die Flüchtenden, die Krise ist schon verursacht bevor irgendjemand Asyl beantragt. Die Krise liegt im Widerspruch des liberal-demokratischen Rechtsstaats, im Widerspruch zwischen den Forderungen nach universalistischer Gleichbehandlung und den nationalstaatlichen Ansprüchen auf partikularistische Ungleichbehandlung. Aha, das interessiert uns Soziokultürlerinnen. Das hat etwas mit Demokratie, Partizipation und – wer hätts gedacht – mit Empowerment zu tun.
Die Halbierung des Prinzips von Demokratie und Partizipation ruft die Krise hervor: Demokratie und Partizipation nicht zu Ende gedacht und geführt. Oder eher für die einen als für die anderen. Darum geht es bei der Situation der Flüchtlinge.
Es gibt den healthy migrant effect [1]. Es gibt die Pionierrolle von Migrantinnen und Migranten. Flüchtlinge sind die starken Notleidenden; stark in jeder Hinsicht! Das ist seit langem belegt, nur schaut keiner hin. Warum das? Das ist auch Teil der Krise.
Vor der Unsicherheit in die Unsicherheit fliehen
Sie fliehen vor dem Krieg, der Gewalt, der Aussichtlosigkeit auf Besserung, vor existentiell bedrohlichen Verhältnissen, und finden wieder Unsicherheit. Unsicherheit sogar in Bezug auf ihren Körper, etwas wofür man nun wirklich nichts kann: Wegen meines Körpers werde ich angegriffen, dumm angeschaut, vergewaltigt, angepöbelt. Das psychosoziale Sein ist auch verunsichert, denn erst jetzt merkt der Flüchtling, was eigentlich alles passiert ist, seit dem Entscheid das Zuhause doch zu verlassen, weil nichts mehr schlimmer sein kann. Er bräuchte jetzt Zeit, Ruhe, Sicherheit und eine Umgebung, in der seine Selbstheilungsreste aktiviert werden können.
Doch leider gibt es dafür keine Zeit. Es gibt wichtigeres zu tun: Zeigen, dass alles wahr ist: Die Wunden, die Folterspuren, die Zerstreutheit, die Verunsicherung, die Identität, die Trauer, die Bedrohung an Leib und Leben. Ok, als Flüchtling schaff ich das.
Die rechtliche Unsicherheit ist schwieriger. Aber auch das versteh ich. Schliesslich muss jedes Gesuch geprüft sein. Früher genügte es, aus Ungarn oder der Tschechoslowakei geflüchtet zu sein. Da gab es noch echte Feinde. Dass es lange geht und wir nie wissen, was am nächsten Tag passiert, daran haben wir uns gewöhnt, aber der Psychologe beklagt sich, weil er nicht planen kann mit mir und der Therapie.
Die ökonomische Unsicherheit ist auch schon bekannt, also auch das geht. Bourdieu sagt doch, das soziale Kapital lässt sich in ein ökonomisches eintauschen. Nicht im Falle der Flüchtlinge. Aber das kulturelle? Zählt nichts. Ja, aber der Sozialstaat bezahlt doch, wenn ich zeige, dass alles wahr ist.
Soziokultur kann helfen, aber nicht um jeden Preis
Vielleicht hilft die Soziokultur. Oder der soziokulturelle Zugang. Wir arbeiten doch mit allen, egal woher sie kommen. Aber gegenwärtig begegnen wir zunehmend Familien, Kindern und Jugendlichen, die sich in einer ziemlich speziellen Situation befinden. Nach der Flucht eröffnet sich für sie die Chance auf einen Neubeginn. Ihre Flucht war immer verbunden mit der Hoffnung auf Besserung. Die erlebte Flucht bedeutet aber stets auch Auseinandersetzung mit Verlust. Aber damit kann man leben. Eben, wenn man Zeit und Ruhe hat.
Je mehr die Soziokulturellen Animatorinnen und Animatoren wissen, wie die rechtlichen Rahmenbedingungen die Möglichkeiten der Lebensgestaltung beeinflussen, desto besser können sie mit den geflohenen Menschen über ihre Situation reden. Und je besser diese ihre eigene Situation verstehen und nachvollziehen können, wieso sie unter diesen Umständen leben, desto mehr wird dieses Wissen wieder zur Ressource.
Auch den Professionellen der Soziokultur hilft das Wissen, konstruktiv mit dieser gegenwärtigen Situation umzugehen und den Zielgruppen samt ihren Herausforderungen und Problemen informiert und sensibel zu begegnen. Es ist entscheidend, dass der bewährte Soziokulturansatz ohne Verunsicherung realisiert wird. Also vergesst alles, was ihr zu Inter- oder Transkulturalität gelernt hat. Was die Flüchtlinge echt von allen anderen, mit denen ihr zu tun habt, unterscheidet, ist ihre individuelle Migrationsgeschichte und das, was das Recht jetzt von ihnen einfordert.
[1] Unter healthy migrant effect wird die Tatsache verstanden, dass Migrierende im Vergleich zu den Nichtmigrierenden der Herkunfsgesellschaft jeweils hoch motiviert sind und mit vielen Ressourcen versehen. Dadurch ergibt sich eine «positive Selektion» auch in Bezug auf ihre physische und psychische Gesundheit.
Bild Quelle: faz.net © dpa
von: Rebekka Ehret
Kommentare
1 Kommentare
roze
Nachdemich diesen Beitrag gelesen habe, muss ich nun folgendes teilen, denn das war mein erster Gedanke: An der Tagung vom 3. Juni 2016 von AvenirSocial zum Thema Soziale Arbeit und Menschenrechte wurde ich von der Prof. Dr. Nivedita Prasad, von der Alice Salomon Hochschule für Soziale Arbeit in Berlin, auf folgendes Positionspapier aufmerksam gemacht: http: //www.fluechtlingssozialarbeit.de/. In diesem Positionspapier geht es um die Soziale Arbeit mit Gefüchteten. Es geht darum zu zeigen, für was die Soziale Arbeit überhaupt Zuständig ist in diesem Bereich und was sicher nicht ihre Aufgabe ist. Absolut lesenswert und auch zum Unterzeichnen, wenn man dahinter steht. Vielleicht ist es ja auch schon bekannt. Das wär ja super. "Aktuell, in Zeiten fortgeschrittener Globalisierung, ist Soziale Arbeit zunehmend gefragt, auch diejenigen zu unterstützen, die sich nicht auf Bürger_innenrechte berufen können, die von einem Teil der Leistungen des Sozialstaates ausgeschlossen sind oder die ihre Abschiebung befürchten müssen. Die Soziale Arbeit steht damit einerseits vor der Herausforderung, neu Angekommene darin zu unterstützen, ein sicheres und gutes Leben zu gestalten und andererseits deren mindere Rechtsstellung als Einschränkung der individuellen und gesellschaftlichen Entwicklung zu kritisieren."
Danke für Ihren Kommentar, wir prüfen dies gerne.