Unter dem Eindruck migrationsgesellschaftlicher Dynamiken wächst das Bedürfnis nach Orientierung. Die nachfolgenden Ausführungen reflektieren darüber. Soziale Arbeit, die sich an Migrationstatsachen orientiert, hat ihre Angebote und Interventionen darauf auszurichten, dass Diskurse Einfluss nehmen, wenn es um Integration, Desintegration, Fluchtdynamiken, kulturelle Differenz oder das Erstarken rechtsnationalistischer Kräfte geht. In Deutschland wurde dies lange unter dem Slogan einer interkulturellen Öffnung beziehungsweise einer interkulturellen Qualifizierung debattiert. Der darin enthaltene Kulturbegriff als Unterscheidungskriterium wird allerdings kritisch gesehen. Daher ist eher von Migrationspädagogik beziehungsweise von Sozialer Arbeit in der Migrationsgesellschaft zu sprechen. Es stellt sich die Frage nach normativ gehaltvollen Perspektiven, der Identifikation gemeinsamer und differenter Problemsichten und deren Bearbeitung in pluralen und durch Migrationen gekennzeichneten Gesellschaften.
Orientierungssuche beginnt mit der Orientierung anhand der Frage, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben und die Soziale Arbeit ihre Funktionen zu erfüllen hat: Einwanderungsgesellschaft, Migrationsgesellschaft, postmigrantische Gesellschaft, Weltgesellschaft?
Ich rede von «Migrationsgesellschaft» statt Einwanderungsgesellschaft, weil inzwischen Migrationsformen unterschiedlichster Art konstitutiv für die fortgeschrittene Moderne geworden sind (vgl. Eppenstein, Thomas (2003): Einfalt der Vielfalt? Interkulturelle pädagogische Kompetenz in der Migrationsgesellschaft. Cooperative Verlag, Frankfurt a. M., Mecheril, Paul (Hrsg.) (2016): Handbuch Migrationspädagogik. S.117. Beltz Verlag, Weinheim, Basel). Ihre Folgen und deren Bewältigung stellen gleichermassen Anfragen an die Migrierenden wie an Ansässige.
Es geht um Orientierung in einer pluralisierten Moderne. Migration scheint für viele als Indiz, Folge und Ursache in einem zu stehen für Desorientierung, eine Orientierungssuche ohne Kompass.
Migration sei eine «unendliche Geschichte», hat Aleida Assmann in ihrem Buch zu Menschenrechten und Menschenpflichten treffend bemerkt (Assmann, Aleida (2018): Menschenrechte und Menschenpflichten, Picus Verlag, Wien). Aus migrationspädagogischer Perspektive verbietet es sich, das gestellte Thema allein auf Einwanderung, Migration und Migrantinnen oder Migranten zu beziehen. Der Umstand der Orientierungssuche selbst soll mitbedacht werden. Zu bedenken ist einerseits, dass Menschen als einander Gegenübertretende immer schon orientiert sind, angelegt auf Resonanz, Kommunikation, Interaktion oder Konfrontation. Orientierungssuche lässt andererseits auf Verlustposten der Moderne schliessen: verlorengegangene Orientierung, Unübersichtlichkeit, Orientierungsverlust durch Komplexitätszuwachs und die Zumutung abstrakter Vorgänge. Dies impliziert gelegentlich, Komplexität zu negieren, zu personalisieren, Schuldige zu finden.
In Hinblick auf Migrationstatsachen ist Orientierungssuche nicht allein auf Prozesse der Hilfe, sondern auch auf Bildungsprozesse verwiesen: Orientierung auf Irritationen bisheriger Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse als Lernanlass, Orientierung an empirischen Erfahrungen gelingender Konvivialität und Orientierung an Prinzipien der Solidarität. Soziale Arbeit hat sich hier an migrationswissenschaftlichen Befunden zu orientieren, also an der deskriptiven Erfassung von Migrationsdynamiken und ihren Folgen. Gleichzeitig fragt sie verstehensorientiert nach den je subjektiven Orientierungsmustern ihrer Adressatinnen und Adressaten (vgl. Eppenstein, Thomas und Kiesel, Doron (2008): Soziale Arbeit interkulturell, S. 27. Kohlhammer Verlag, Stuttgart). Seit den 1990er-Jahren bestimmt ein gewachsenes Pluralitätsbewusstsein den Alltagsdiskurs und die Fachdebatten um Konzepte Sozialer Arbeit. Es stellt sich aber auch die machtpolitische Frage nach der Deutungsmacht darüber, wo welche Probleme liegen und welche Orientierungen für eine angemessene Bearbeitung dieser Probleme sprechen. Wer erkennt wem Deutungen zu und wo finden sich strukturelle Orte, wo darüber verhandelt wird? Die entsprechenden Diskurse sind daher Gegenstand und Teil der Orientierungssuche zugleich. Nicht der Umstand von Migration ist das Problem, sondern die verbreitete Weigerung, Migrationen als irreversible Tatsache anzuerkennen. Die nüchterne Analyse jedoch wird eskortiert von Erregung, Alarmismus und Stimmungen.
Wie haben sich solche Stimmungen gewandelt? Was ist das Problem? Wie ist die Stimmung? Was stimmt nicht? Meine These hierzu lautet: Nachdem es in Deutschland seit der Anwerbung von «Gastarbeitern» vor über 60 Jahren bis zur Novellierung des sogenannten «Ausländergesetzes» 2005 gedauert hat, die faktische Einwanderung anzuerkennen, realisiert ein Teil der «ethnischen Deutschen» erst mit zeitlicher Verzögerung, dass Migrationsprozesse irreversibel geworden sind. Die Resonanz auf Einlassungen zur «Abschaffung Deutschlands» etwa können als Beginn einer emotionalen Phase gedeutet werden, die bis heute anhält.
Wer schon zuvor Ressentiments gegenüber Immigration hegte, und sich nun unter dem Segel einer neuen Rechten emotional Luft verschafft, reagiert damit nicht auf die empirische Dimension von Migrationen, sondern auf die Erkenntnis, dass für Migrantinnen und Migranten Rechtsansprüche und zum Teil Bleibeoptionen bestehen.
Die Stigmatisierung bestimmter «Kulturkreise», wie Horst Seehofer, damals amtierender CSU-Vorsitzender in Bayern, es 2010 nannte, betreibt noch in der Abwehr vermeintlicher «Kulturen» die Bestätigung einer ethnisierenden herrschenden Semantik. Diese redet zwar von «Kulturen», meint aber unerwünschte Menschen. Die Totsagungen des Multikulturalismus zehren unverhohlen von kulturalistischen Zuschreibungen. Und sie zehren von einer Sicht auf gesellschaftliche Probleme, die diese als kulturelle Probleme im Sinne kultureller Unvereinbarkeit einreden.
Aktualisiert wurde diese emotionale Phase einerseits durch die Fluchtdynamik, die in Deutschland im Sommer 2015 aufkeimte, sowie durch die Polarisierungen wegen der Politik in der Türkei (vgl. Ghaderi, Cinur und Eppenstein, Thomas (Hrsg.) (2017): Flüchtlinge. Multiperspektivische Zugänge. Springer VS. Wiesbaden.).
Indem das Bekenntnis zu nationalchauvinistischen Codes zum dominanten Identitätsmerkmal erklärt wird, verbleibt kaum Raum für eine ambivalente, brüchige, plurilokal verortete Identitätskonstruktion des Einzelnen. Bei den vielen, die für sich eine eindimensionale Identität – «Ich bin nur das!» – ablehnen, verschärft sich das Identitätsproblem.
Der dominanter in Erscheinung tretende «Ethnonationalismus» ist verzahnt mit Orientierungen an ein essenzialistisches Kulturverständnis und dem Diskurs innerhalb einer neuen Rechten zu einem «Recht auf Differenz». Die Vorstellungen einer schutzwürdigen Nationalkultur reichen indes weit auch in gemässigte politisch nationalkonservative Lager hinein. Die Rede von «Leitkultur» verkennt die Voraussetzung für liberal verfasste Demokratien, dass eine Beteiligung für alle Bürgerinnen und Bürger gewährleistet sein muss, um auszuhandeln, was «Leitkultur» beinhalten soll. Eine einseitige Setzung durch Teile der Dominanzkultur wäre gerade im Sinne einer «Leitkultur» problematisch. Denn sie schreibt als leitendes Prinzip die Partizipation aller Bürgerinnen und Bürger, Migranten und Migrantinnen also eingeschlossen, an der gesellschaftlichen Willensbildung vor. Die Autonomie der jeweiligen kulturellen Lebenspraxis von Staatsbürgerinnen und -bürgern bedingt, dass staatliche Eingriffe in die Lebens- und Glaubensorientierungen auf Fälle limitiert sind, bei denen Verfassungsgrundsätze oder Rechtsgrundsätze verletzt werden. Staatliche Gewalt, staatliche Steuerung und staatliche Orientierungsangebote haben plurale und unterschiedliche Konzepte guten Lebens ihrer Bürger und Bürgerinnen zu respektieren und – anders als in Beziehungen der Bürger und Bürgerinnen untereinander – anzuerkennen.
Ergo gilt dieses Prinzip auch für staatlich verantwortete oder subventionierte Soziale Arbeit. Diese hätte darüber hinaus die Aufgabe, das Recht, Rechte zu haben, auch im Falle eingeschränkter Rechte zur Geltung zu bringen.
Ein essenzialistisches Verständnis von «Kultur», kultureller Zugehörigkeit oder Repräsentanz bestimmter homogen gedachter kultureller Wesensart indes verkennt die Dynamik kultureller Prozesse. Menschen sind durch ihre Sozialisation kulturell orientiert, vor allem in Alltagsbezügen. Kulturelle Muster verbürgen Halt und Orientierung. Sie werden zum Problem, wenn sie erstarren und zur wechselseitigen Askription gegenüber unverstandenen anderen verkommen.
Es sind nicht «Kulturen», die migrieren oder eingewandert sind, denn Kulturen handeln nicht. Es sind die je individuellen Menschen, deren kulturelle Orientierung je nach Kontext in ihrer Bedeutung wachsen oder nachlassen kann.
Konfliktpotenziale, die sich aus unterschiedlichen kulturellen Orientierungen ergeben, stehen denen, die sich in homogen geglaubten Gruppen finden, nicht nach: Das Mass an möglichen Konflikten oder auch nur Irritationen, Orientierungsverlusten, Kontroversen usw. ist in Hinblick auf differente oder homogene Alltagskultur kontingent.
Es bedingt die Unterscheidung von Gesellschaft und Gemeinschaft in posttraditionale, demokratische Gesellschaften, um gesellschaftliche Integration und Anerkennung zu beanspruchen, ohne dies gleichsam an kulturelle Erwartungen der in ihnen lebenden Gemeinschaften zu binden.
Bei einer «interkulturell» reflexiven Orientierung geht es darum, eigene Befangenheiten in der je eigenen partikularen kulturellen Orientierung zu überwinden. Die neue Rechte jedoch formiert sich als regressiv reaktionär, mit dem selbstbewussten Anspruch, das als Eigenes apostrophierte starre Gehäuse der Kultur nicht zu überschreiten, die Grenzen nicht dehnbar und flexibel oder auch durchlässig zu gestalten, sondern gegenüber vermeintlicher Überfremdung, «Umvolkung» usw. zu verteidigen. Die neue Rechte meint, so einen verloren geglaubten früheren Status kultureller Reinheit wieder zu erlangen. Während Erstere den fragilen Prozess einer Orientierung auf Zukunft auf der Grundlage faktischer Pluralisierungsprozesse zu gestalten suchen, berufen sich Letztere auf ein Verteidigungsrecht auf der Grundlage kontrafaktischer Ideologien. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts zeigt die schrecklichen Auswirkungen davon. Kulturell anderen Anerkennung zu zollen, impliziert daher einerseits, dass sich niemand aufgrund seiner Herkunft oder kulturellen Orientierung schämen muss. Oder, um es in den Worten des Philosophen Theodor W. Adorno auszudrücken, dass jeder, jede «ohne Angst verschieden sein darf». Andererseits impliziert Anerkennung auch, dass Kontroversen und Kritik wechselseitig nicht vorenthalten werden.
Sofern der randlose Integrationsbegriff nicht einseitig als Bringschuld von Migranten und Migrantinnen im Sinne einer einseitigen Assimilation (monistisches Integrationsverständnis) gesehen wird, scheint «Integration» als Orientierung plausibel: Wie sich Migranten selbst orientieren, haben verschiedene Studien gezeigt (vgl.: Eppenstein, Thomas und Kiesel, Doron (2012): Migration und Integration. Herausforderungen für Thüringen. Thüringer Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit, S. 35. MSB Verlag, Erfurt). Mit einer Integrationsperspektive werden vor allem folgende Ziele verfolgt:
Hier zeigt sich der Wunsch nach Anschlussmöglichkeiten und Zugangschancen in die Teilbereiche der Gesellschaft. Wir bezeichnen sie als sogenannte «Systemintegration», also Inklusion in die Bereiche Recht, Kultur, Politik oder Geldverkehr. Diese «Systemintegration» umfasst ebenso die sogenannte «Sozialintegration», die Integration in jeweilige Lebenswelten, in denen leiblich kommuniziert, geredet und gefühlt wird.
Entsprechend wird unterschieden erstens zwischen «monistischer Integration» (einseitige Assimilation an die Dominanzkultur «pluralistischer Integration»), ethnisch verstandenem Nebeneinander, und zweitens «interaktionistischer Integration». Letztere hebt die wechselseitige Beeinflussung und Auseinandersetzung hervor und verspricht eine produktive Orientierung.
Allerdings ist der jeweilige Kontext zu beachten, wer hier mit wem interagiert. Das interaktionistische Integrationskonzept läuft Gefahr, die permanente Unterscheidung in ein homogenes gesellschaftliches «Wir» und die migrierten anderen als kollektiviertes «Sie» zu verfestigen.
Wenn nach Orientierungen gefragt wird, möchte ich vier grundlegende Hürden für eine Integration in Migrationsgesellschaften zur Diskussion stellen.
Wie steht es um die Bedingungen der Möglichkeiten, diese Hürden für eine Orientierung an einem interaktionistischen Integrationskonzept zu überwinden?
Die Trumpfkarte «Me first» erscheint gegenwärtig als dominantes Modell, als eine Art globale Währung oder Spielregel. Es ist abers davon auszugehen, dass der sich formierende Widerspruch dagegen Chancen hat, denn die weltgesellschaftlichen Kommunikationszusammenhänge lassen sich nicht zurückentwickeln. Somit geht es um Orientierung an universellen Prinzipien. Und es geht um Höflichkeit, Respekt, Solidarität auch mit Fremden und Aufmerksamkeit gegenüber Ähnlichkeiten unter den voneinander Verschiedenen. In diesem Sinne könnte man von einer Orientierung mit anderen in plurikulturellen Gesellschaften sprechen, die auf kulturelle Diversität ausgerichtet sind, ohne dabei bestehende Differenzmuster durch andauernde Grenzmarkierungen zu verabsolutieren.
von: Dr. Prof. Thomas Eppenstein
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1 Kommentare
Simone
Danke für diesen Beitrag!
Danke für Ihren Kommentar, wir prüfen dies gerne.