Bereits vor oder spätestens nach der Geburt lautet meist die erste Frage: «Ist es ein Junge oder ein Mädchen?». Dieses binäre Verständnis von Geschlecht durchzieht, prägt und ordnet unsere westliche Gesellschaft in allen Bereichen. Die Einteilung in die Kategorien Frauen und Männer, sei es im Alltag, in der Forschung, bei der Arbeit oder in der Schule scheint so verlockend einfach. Dabei wird ausgeblendet, dass es eine Vielfalt von Geschlechtern gibt, also vielmehr als nur zwei, sowohl auf körperlicher, psychischer als auch sozialer Ebene. Dieser Fakt scheint auch heute noch, nur sehr wenigen Menschen bewusst und bekannt zu sein.
Als nonbinäre Person, also als Mensch, der sich weder als Frau noch als Mann identifizieren kann und/oder will, bin ich jeden Tag mit einer Gesellschaft konfrontiert, die binär geordnet ist. Sei es wenn beim Anrede-Feld, wiedermal Herr oder Frau ausgewählt werden muss, beim Eintrag in meinem Pass nur ein F oder M stehen darf, wenn ich im Restaurant auf die Toilette oder ich mich beim Sport umziehen möchte. Oder wenn andere Menschen mich in die Kategorien Frau oder Mann einteilen, und wenn dies nicht gelingt, mit Unsicherheit oder Ärger reagieren.
Wer bestimmt denn, welchem Geschlecht mensch angehört? Ist das jeder Mensch für sich, ist es die Gesellschaft, sind es Ärzt*innen oder andere Fachpersonen? Die Selbstbestimmung von trans[1], nonbinären und intergeschlechtlichen[2] Menschen ist in der Schweiz immer noch stark eingeschränkt. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ist die Schweiz, was LGBTI[3]-Rechte anbelangt, dieses Jahr auf der Rainbow Map Europe nur auf Platz 23 von 49 Ländern gelandet, als zweitletztes westeuropäisches Land. Dieses schlechte Ergebnis hat viel mit dem Mangel an Schutz für intergeschlechtliche und trans Personen zu tun. Die Schweiz hat hier dringend Nachholbedarf, dazu gehört auch, endlich die geschlechtliche Vielfalt anzuerkennen und zu entpathologisieren.
Die Theorien, auf die sich die Soziale Arbeit stützt, ihre Forschung und die Ausgestaltung ihrer Praxis basieren hauptsächlich auf dieser kulturell bestimmten Vorannahme der Geschlechterbinarität. So trägt die Soziale Arbeit dazu bei, die Cisnormativität[4] zu reproduzieren. Berufsethisch verpflichtet sich die Soziale Arbeit aber in ihrem Berufskodex zur Zurückweisung von Diskriminierung, dementsprechend hat sie auch die geschlechtliche Vielfalt in ihre Theorien, ihre Forschung und ihre Praxis zu inkludieren. Zudem versteht sich die Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession und hat sich somit auch für die Menschenrechte von trans, nonbinären und intergeschlechtlichen Menschen einzusetzen. Wäre es nicht für alle Menschen ein Gewinn, dieses starre einengende Verständnis von Geschlecht aufzubrechen und eine grössere Vielfalt zuzulassen und zu leben? Die Soziale Arbeit hat hier die Chance mit gutem Beispiel voranzugehen. Wer mehr zum Thema erfahren möchte und wie es sich in der Praxis umsetzten lässt, dem*der möchte ich gerne folgende zwei Gruppen vorstellen: Die Fachgruppe Queer vom DOJ (Dachverband Offene Kinder- und Jugendarbeit) möchte sexuelle und geschlechtliche Vielfalt im Kontext der Jugendarbeit neu denken und umsetzen. Zudem bietet die Fachgruppe von du-bist-du Workshops für Fachpersonen, die mit jungen Menschen arbeiten, zu geschlechtlicher und sexueller Vielfalt im Kontext der Sozialen Arbeit an.
Ich wünsche mir, dass sowohl in der Gesellschaft wie auch in der Sozialen Arbeit; ihrer Lehre, Forschung und Praxis die geschlechtliche Vielfalt anerkannt und gleichberechtigt miteinbezogen wird und immer mehr zu einer Selbstverständlichkeit wird.
[1] Ein trans Mensch identifiziert sich nicht mit dem Geschlecht, dass ihm bei der Geburt zugewiesen wurde.
[2] Intergeschlechtlichkeit bezeichnet das angeborene Vorhandensein von körperlichen Merkmalen, die nicht in die binäre gesellschaftliche Norm von «männlich» und «weiblich» passen.
[3] LGBTI ist ein Akronym und steht für lesbische, schwule, bisexuelle, trans und inter* Menschen.
[4] Cisnormativität stellt Cisgeschlechtlichkeit (d.h. Personen identifizieren sich mit dem Geschlecht, das ihnen bei Geburt zugewiesen wurde) als Norm und Transidentität bzw. Intergeschlechtlichkeit als Abweichung dar.
von: Lou Layritz
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