«die Welt liegt uns zu Füssen, denn wir stehen drauf (…) bevor wir fallen, fallen wir lieber auf»
Die fantastischen Vier, MfG, 1999
Nach den stillen Wochen des Lockdowns kehrt das Leben langsam wieder zurück: Schulen, Bibliotheken, Freibäder, Museen, Fitnessklubs und Restaurants – alles wieder da. Veranstaltungen und Einladungen sind wieder möglich. Die Klarheit des Lockdowns (zuhause bleiben, Abstand, maximal fünf Personen gleichzeitig an einem Ort) ist nicht mehr vorhanden, allerdings sind die Regeln auch nicht aufgehoben. Wie ist das jetzt mit den Distanzregeln? Alle wursteln etwas, und statt dem erhofften Befreiungsschlag fühlen sich viele fast noch mehr überfordert, denn normal ist das jetzt wieder mögliche Leben ja trotz Lockerung noch nicht oder nicht mehr.
Neben dem sozialen Fasten und der Schnellbleiche in digitaler Kommunikation haben wir durch das Virus SARS-CoV-2 noch etwas Anderes gelernt: Die Menschen sind eingebettet in die Welt. Auch in der urbanen und globalisierten Welt leben wir zusammen mit anderen Arten in einer Umwelt, mit Steinen und Winden, mit Wolken und Bäumen, mit Pilzen, Vögeln, Elefanten und Schlangen. Mit Bakterien und Viren.
Kurz nach Bekanntwerden der ersten Infektionen kursierte ein Video, in welchem sich das Virus an die Menschheit wendet und seine Botschaft verkündet. Es tat dies per Brief. Es erklärte, worauf es die Menschen aufmerksam habe machen wollen: darauf, wie sie unachtsam gegenüber ihren Mitmenschen seien; darauf, wie sie rücksichtslos mit den Ressourcen der Natur umgingen; darauf, wie sie nur an ihr eigens Vergnügen dächten. In diesem Video entschuldigt sich das Virus: es habe nicht so viel Schaden anrichten wollen, nicht so viele Menschen töten wollen. Es wäre ihm lieber gewesen, sich anders Gehör verschaffen zu können als durch Gefährlichkeit und Tödlichkeit. Es entschuldigt sich und gibt gleichzeitig seiner Hoffnung Ausdruck, die Menschheit hätte ihre Lektion nun hoffentlich gelernt. Das wäre demnach der Sinn des Virus: den Menschen mit einem Schuss vor den Bug zu einer moralischen Läuterung, einem umweltbewussteren Verhalten und einem besseren sozialen Zusammenhalt zu verhelfen.
Auch wenn solche Sinnsuchen Humbug sind – ebenso wie die ebenfalls üppig sich ausbreitenden Verschwörungstheorien zur COVID-19 Pandemie von 5G-Revenge über die Freisetzung des Virus durch Bill Gates bis zu mit der Impfung automatisch eingepflanzten Chips – so scheinen sie doch einem urmenschlichen Bedürfnis zu entsprechen. Dem Bedürfnis nach einem Sinn, den das Ganze doch haben müsse. Meiner Meinung nach ist Sinnhaftigkeit jedoch eine ganz und gar menschliche Eigenschaft, welche durchaus legitim ist, aber nichts mit der Welt an sich zu tun hat. Für den Sinn sind wir Menschen selber verantwortlich, er liegt in unserer Gestaltungsmacht. Die Welt ist einfach. Sie war schon vor den Menschen da und entwickelt sich weiter. Natürlich reagieren Pflanzen, Tiere, Meere auf menschliche Einflüsse. Der Kapitalismus, das Patriarchat und die christliche Auslegung der menschlichen Überlegenheit gegenüber der Natur trugen und tragen alle zur Zerstörung und zum Verschleiss der natürlichen Ressourcen bei. Etwas Demut gegenüber allem Nicht-Menschlichen täte wohl. Etwas mehr Bewusstsein, dass wir Menschen vielleicht nicht das Virus SARS-CoV-2 brauchen wie es uns braucht (als Wirt*in), aber dass wir ohne die Erde, ohne die Pflanzen, die nach dem Philosophen Emmanuele Coccia der Ursprung der Welt sind, ohne die Tiere, die Meere und den Himmel nicht leben können, würde uns nicht schaden und wäre auch nicht dumm, sofern wir die Erhaltung unserer Art nicht torpedieren wollen. Die Meeresbiologin Rachel Carson, die vielen als Begründerin des Umweltschutzes gilt, sagte, es sei an der Zeit, mit der Natur «to come to terms», also sich in die Natur einzuordnen, sie wahrzunehmen und mit ihr statt gegen sie zu leben.
In der Corona-Zeit gab es die Beobachtung, dass Staaten mit Frauen an der Spitze eher besser durch die Krise kamen als solche mit sehr selbstbezogenen männlichen Präsidenten. Eine Begründung dafür war, dass es diesen Präsidentinnen leichter gefallen sei, den Rat anderer – vornehmlich aus der Wissenschaft – anzuhören. Es war offensichtlich in dieser Zeit grosser Unsicherheit wichtig, mit wissenschaftlichen Erkenntnissen umgehen zu können. Das heisst: Erkenntnisse aufzunehmen und in Massnahmen umzusetzen, aber sich gleichzeitig auch bewusst zu sein, dass Wissenschaft keine absoluten Wahrheiten schafft, sondern immer nur den aktuellen Kenntnisstand wiedergeben kann. Dass somit das, was heute wahr ist morgen vielleicht revidiert oder relativiert wird. Eine solche informierte und rationale, erkenntnisbasierte Haltung ist sicher nicht Frauen vorbehalten, sondern entspricht der allgemein menschlichen Fähigkeit zur Reflektion und Erkenntnis. Dies zu erkennen, dazu braucht es eigentlich keinen Virus.
Ja, wir teilen die Welt mit anderen Lebewesen und Stoffen, unter anderem mit Viren, unter anderem mit dem Virus SARS-CoV-2. Wie jedes Virus will es sich verbreiten und braucht dazu eine*n Wirt*in. Das ist alles. Das neuartige Corona-Virus hat keine Botschaft, keine Moral, keinen Sinn. Dafür sind wir Menschen alleine zuständig.
von: Simone Gretler Heusser
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