Soziokultur

Die Corona-Situation in der Schweiz (2/3): Der Staat und die Bürgerinnen und Bürger

Die Corona-Situation in der Schweiz (2/3): Der Staat und die Bürgerinnen und Bürger

Die Corona-Pandemie hat zu einer verstärkten Präsenz des Staates geführt. Der Staat kauft die Impfung ein, der Staat organisiert die finanziellen Hilfen für jene, deren wirtschaftliche Existenz bedroht ist, der Staat verfügt Schutzmassnahmen wie Versammlungsverbot und Abstandsregeln. Liberale Stimmen – oder jene, die sich als ebensolche deklarieren – befürchten nun das Schlimmste: In der Pandemie hätten sich noch die autonomsten Subjekte freiwillig an die Leine des Staates legen lassen, folgten blind wie Schafe den staatlich verordneten Regeln. Selber denken, Eigenverantwortung, das war gestern, heute gilt: einfach folgen und befolgen. Wie schwierig wird es sein, diesen Nanny-Staat wieder zu redimensionieren und sich den Tentakeln des Staatsmolochs wieder zu entwinden, dereinst, wenn Corona Geschichte sein oder zumindest keine akute Gefahr mehr herrschen wird!

Das sogenannte Wohlfahrtsdreieck hat in den 1970er Jahren dazu beigetragen, die Staat-Markt-Dichotomie in der sozialwissenschaftlichen Diskussion zu überwinden. Weder der Staat noch der Markt tragen allein zum Wohlstand der Gesellschaft bei, die Zivilgesellschaft ist ebenfalls eine wichtige Akteurin im welfare mix.

Wo ist da der Zusammenhang mit der Corona-Situation? Nun, auch die Pandemie kann weder durch den Staat noch durch die Wirtschaft allein «gelöst» werden. Es braucht dazu auch die Zivilgesellschaft, Einzelpersonen, Gemeinschaften, Familien, Vereine. Das Engagement von «Rocinha Resiste», einem Kollektiv aus einer der ärmsten Favelas in Rio de Janeiro in Brasilien ist ein Beispiel dafür. Mittlerweile unterstützt von zahlreichen Institutionen, hat «Rocinha Resiste» den Kampf gegen Covid-19 selbst in die Hand genommen. Aber auch in einem reichen Land mit einem gut funktionierenden Staat wie der Schweiz braucht es die Zivilgesellschaft, wie die zahlreichen Angebote der Nachbarschaftshilfe gerade auch in der Pandemiesituation zeigen.

Die drei Sphären des welfare mix sind nicht voneinander losgelöste Welten, sondern miteinander verknüpft. Zwar funktionieren sie nach unterschiedlichen Logiken und sind zumindest teilweise in unterschiedlichen Bereichen wirksam. Aber in allen drei Bereichen sind Menschen – und nur Menschen – am Werk.

Eine Krise bringt neben viel Not und Angst auch Erkenntnisse. «Du kannst und zusammen können wir» war ein Motto von «Rocinha resiste»: die Krise kann auch empowern und die Menschen solidarisch machen. Weniger Hierarchien können zu einer besseren Zusammenarbeit führen, wie es der Chefarzt des Spitals Carità in Locarno erlebt hat. Und der Staat? Er muss für alle Bürgerinnen und Bürger gleich da sein. Und er muss sie alle gleich schützen können. Das gilt in der Pandemie, aber auch danach, etwa bei ökologischen Anliegen wie bei der Dekarbonisierung der Wirtschaft.


von: Simone Gretler Heusser

Kommentare

1 Kommentare

Anita Glatt

Was heisst eigentlich liberal? Alfred Escher oder Jakob Stämpfli? Der in Oxford lehrende Historiker Oliver Zimmer unterscheidet in seinem neuen Buch (2020) mit Blick auf die Liberalen in der Schweiz Wirtschaftsliberale und Radikalliberale. Erstere setzen sich für Beschränkungen der öffentlichen Gewalt ein. Ihnen geht es um mehr wirtschaftlicher Freiheit und mehr Wohlstand. Die Radikalliberalen hingegen engagieren sich für politische Mitbestimmung einer breiten Basis. Ihnen geht es um politische Freiheit, Partizipation, Solidarität und gesellschaftliche Kohäsion. Unsere liberale Demokratie vereint beide Richtungen. Was in der aktuellen epidemiologischen Situation auffällt: die Wirtschaftsliberalen, allen voran die Vertreter der SVP, bekunden Mühe mit dem Epidemiengesetz (2013), welches den Bund ermächtigt, Massnahmen gegenüber einzelnen Personen, gegenüber der Bevölkerung und bestimmten Personengruppen sowie Massnahmen im internationalen Personenverkehr vorsieht, um die Volksgesundheit zu schützen, Epidemien zu verhindern oder einzudämmen. Sie fürchten um Einbussen ihrer Gewinne und damit um das ökonomische Fundament ihrer politischen Macht. Auch die Bevölkerung ist gespalten, wie sich eindrücklich in den teilweise sehr emotionalen bis gehässigen Debatten auf in Kommentarspalten von online-Medien und sozialen Medien wie twitter zeigt. Die einen möchten, dass der Bundesrat die Zügel anzieht, z.B. die Schulen schliesst, die anderen, dass er sie lockert, und endlich die Restaurants (wenigsten für Handwerker) wieder öffnet. Hinter letzterem stehen (nicht nur wirtschaftsliberale) Individualinteressen, aber fehlt der Blick auf das Ganze, das Gemeinwohl. Immer stärker machen sich aber auch Menschen mit Aktionen bemerkbar, welche sich für ganze Bevölkerungsgruppen, die Alten, die Kinder und Jugendlichen, und allgemein die öffentliche Gesundheit einsetzen. Es sind dies kleine, aber wichtige Initiativen von Privatpersonen, die damit Behörden und Politik massgeblich beeiflussen und unter Druck setzen können. Es gibt zahlreiche Beispiele, um hier nur wenige zu nennen: die offenen Briefe von Angehörigen und Pflegenden (#Geschätzer Bundesrat, https://www.offener-brief.ch/), von Kulturschaffenden (https://www.gegen-die-gleichgueltigkeit.ch/). Ein aktuelles Beispiel ist das Projekt einer Mutter, die zusammen mit Aktivist:innen eine Website ins Leben gerufen hat, auf der Privatpersonen - Eltern, Lehrpersonen, Ärzt:innen - Corona-Cluster an Schulen melden können (https://schulcluster.ch). Sie tun dies ausserhalb staatlicher oder politischer Leistungsrollen; und hier kann man das Konzept der Zivilgesellschaft aufgreifen. Nach Frank Adloff (2005) steht der Begriff neben anderen Bedeutungsvarianten für ein demokratisches Regulativ gegen einen starken Staat, auf der anderen Seite für die Vorstellung, dass die Bürgerinnen und Bürger sich nicht allein auf den Sozialstaat verlassen (S. 7). Sie tun dies im Rahmen eines zivilgesellschaftlichen Engagements im Interesse des Gemeinwohls. Sie springen da ein, wo Politik und Staat zu wenig unternehmen, um Kinder, Jugendliche und ihre Angehörigen, vor Corona-Infektionen zu schützen. Es braucht sie jetzt mehr denn je, die zivile Gesellschaft. Und die Medien, welche dieses Engagement sichtbar machen. Quellen: Adloff, Frank (2005): Zivilgesellschaft. Theorie und politische Praxis. Frankfurt a. M./New York. Zimmer, Oliver (2020). Wer hat Angst vor Tell? Unzeitgemässes zur Demokratie. Basel: Echtzeit-Verlag.

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