Was uns krank macht, ist neben dem Virus SARS-CoV-2 auch die Ungewissheit darüber, wie lange das alles dauert, wie es nun weitergeht, welche Strategie die beste ist. Ungewissheit ist jedoch eine menschliche Grunderfahrung. Wir sollten lernen, mit Ungewissheit umzugehen. Ja, das Virus hat unser aller Leben verändert. Das gilt nicht zuletzt für die Bildung, von der Volksschule bis zur Universität.
Barbara Stiegel verantwortet an der Universität Lyon einen Masterstudiengang «Pflege, Ethik, Gesundheit». Die aktuelle Situation treibt sie auf die Barrikaden. Die Schliessung der Universitäten und die Verlagerung der Lehre ins Internet kommen ihrer Meinung nach vielen gerade gelegen. «E-Learning», «Distanz-Unterricht», «Home-Office», das sind im aktuellen Kontext Reizbegriffe für die Philosophin. Es sei zurzeit ungemein viel schwieriger, echte Beziehungen zwischen Lehrenden und Studierenden aufzubauen. Was auf der Stufe der Primarschule die grosse Zurückhaltung gegenüber einer erneuten Schulschliessung begründet, ist auch Stiegels Hauptargument: Die Pandemie verstärkt die soziale Ungleichheit. Nicht alle Primarschulkinder haben zuhause einen eigenen Arbeitsplatz mit Computer und WLAN-Anschluss. Das Risiko, dass sie abgehängt werden, ist gross. An der Universität ist es ähnlich. Ausserdem, so argumentiert die Philosophie-Professorin, würden die Pandemie-Schutzmassnahmen an den Hochschulen extrem technokratisch umgesetzt. Kontrolle wird grossgeschrieben, das Menschliche fällt unter den Tisch. Sie bezieht sich auf die Situation in Frankreich.
An den Hochschulen in der Schweiz, ja auch in Gymnasien und sogar in der Volksschule gibt es allenthalben Überlegungen, Teile des Online-Lernens für die Zeit nach der Pandemie beizubehalten. Digitales Lernen kann eine grosse Chance sein – gerade auch im Bereich des individualisierten, personalisierten Lernens. Dass der unfreiwillige Digitalisierungsschub, den die Corona-Situation mit sich brachte, hoffentlich für viele Lernende und Lehrende auf allen Ebenen des Bildungssystem ein nachhaltiger und positiver Nebeneffekt der Pandemie sein wird, ist zu hoffen – und anzunehmen. Aber Vorsicht! Nur weil heute jede und jeder zoomen kann heisst das noch nicht, dass unsere Bildungsinstitutionen fit sind für das digitale Lernen. Unbestritten ist auch, dass in der aktuellen Situation die Kontrolle ein für viele überdimensional starkes Gewicht hat. Kameras beobachten die Studierenden beim Schreiben einer Prüfung – aber welches Auge sieht ihre Nöte im Lernprozess? Eine Dozentin und Kollegin der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit berichtet, in der momentanen Hybridsituation (Curriculum ist analog ausgerichtet, die Umsetzung erfolgt digital) betrage der Aufwand für den Unterricht im Bachelor-Studium das Vierfache des regulären Lehrbetriebes. Das ist das ist die Gefahr, dass bei einem Wandel zu einseitig auf das technisch (einfach) Machbare gesetzt werden könnte. Gefordert ist jedoch eine fehlerfreundliche, experimentierfreudige Herangehensweise ans Lernen der Zukunft. Es ist wichtig, die Erfahrungen aller Beteiligten kontinuierlich zu reflektieren. Dazu gehört eine kritische Haltung gegenüber noch technokratischeren Lösungen ebenso wie das genaue Hinschauen, welche Unterschiede es beispielsweise zwischen einer Online-Diskussion und einem Gespräch körperlicher physischer Präsenz gibt. Aus diesem Wissen entwickeln sich erwachsen Kompetenzen für morgen, auch im Umgang mit der Ungewissheit.
Ja, Digitalisierung und digitales Lernen sind eine Chance. Aber dazu gehört auch, unsere Lehre zu verändern. Die unterschiedlichen Interessen in grossen Gruppen zu moderieren, einen Konsens zu finden oder die Kommunikation mit sehr heterogenen Zielgruppen sind beispielsweise Fähigkeiten, für die kein Roboter taugt. Aber diese Fähigkeiten werden in Zukunft noch wichtiger. Das sollte sich auch in unseren Curricula spiegeln. Die Soziale Arbeit und besonders die Soziokulturelle Animation haben hierzu einiges zu bieten. Sie können viel zu Chancengleichheit beitragen, auch – oder gerade – in der digitalen Welt.
Dieser Artikel wurde am 10. Februar 2021 von Simone Gretler Heusser verfasst und auf dem Soziokulturblog veröffentlicht.
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