Dies ist eine Geschichte über das Scheitern. Das Scheitern von Bürokratie und Regulierung. Und eine Geschichte des Widerstands und der Selbstbehauptung. Eine Geschichte von Lumpensammlern, welche das Recht auf Arbeit einfordern. Und eine Geschichte von Sozialarbeiterinnen, welche ihren Job umdefinieren. Ort des Geschehens: Paris.
Täglich spuckt die Grossstadt überflüssig gewordene Gegenstände aus, überquillt von Gütern, taxiert als unbrauchbar, abgetragen, abgelaufen. Menschen, welche nichts Besseres zu tun haben, sammeln die Sachen ein und bieten sie in gut kapitalistischer Manier zum Verkauf an. Täglich breiten die Lumpensammler ihre Ware auf der Strasse aus, ein bunter Markt wächst. Zu bunt für viele – und vor allem zu wild. Der Ruf nach Regulierung wird laut, politische Vorstösse verlangen Ruhe und Ordnung. Im Jahr 2009 erlässt die Stadtverwaltung von Paris eine Verordnung. Darin ist festgehalten, wer verkaufen darf, was verkauft werden darf, wann und wo dies stattfinden darf. Der informelle Sektor, das ist Dritte Welt, nicht Europa. In Europa, in Paris ist geregelt, was Arbeit heisst.
Zwei Sozialarbeiterinnen der Organisation „Morgenröte“ (Aurore) kümmern sich in der Stadt der Liebe um die Händler. Ihr Auftrag heisst: Wiedereingliederung der Verkäufer und Regulierung der Verkäufe. Die sozialen Profis entwickeln Konzepte zur beruflichen Integration für die Händler und Standordnungen für den designierten Marktplatz im 18. Arrondissement. Doch die Sozialarbeiterinnen merken schnell: niemand hat auf sie gewartet. Und: auf dem Papier mag ihr Auftrag Sinn machen. In der Realität sehen sie sich mehrheitlich über 60jährigen Männern gegenüber, für welche das Sammeln und Verkaufen von gebrauchten Gegenständen die einzige Möglichkeit ist, sich über Wasser zu halten. Welche den Markt bisher selbstorganisiert durchgeführt haben. Sie fordern nur eines: sie wollen ihre Arbeit als Arbeit anerkannt sehen. Sie brauchen kein Büro. Und auch keine Sozialarbeiterinnen. Schliesslich kommt ein Prozess in Gang. Die Sozialarbeiterinnen definieren ihre Aufgabe um. Statt die Strassenhändler zu kontrollieren und zu regulieren, machen sie sich für deren Anerkennung als selbständig Erwerbstätige stark. Und sie nutzen ihre Erkenntnisse auch für die Entwicklung ihres eigenen Berufes: sie fordern Sensibilisierung für prekäre Arbeitsverhältnisse in den Ausbildungen der Sozialen Arbeit. So wird die Geschichte des Scheiterns der Regulierung zu der Geschichte der Selbstbehauptung, des Widerstands und schliesslich der Anerkennung – sowohl der Händler als auch der Sozialen Arbeit.
Quelle: Milliot, Virginie (2016). Une intenable bureaucratie de la rue. Les travailleurs sociaux face aux débordements des marchés informels. In: Tsantsa 21. Seismo: Zürich. S. 38-50.
von: Simone Gretler Heusser
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