Kindes- und Erwachsenenschutz

«Das Vertrauen mussten sich die KESB erst erarbeiten»

«Das Vertrauen mussten sich die KESB erst erarbeiten»
Gefährdete Kinder zu schützen, gehört zu den wichtigsten Aufgaben der KESB.

Diana Wider ist Dozentin und Projektleiterin am Kompetenzzentrum Kindes- und Erwachsenenschutz der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit und KOKES-Generalsekretärin. Als solche hat sie 2013 die Einführung des neuen Kindes- und Erwachsenenschutzrechts hautnah miterlebt. Im Interview blickt sie zurück auf die letzten zehn Jahre, erklärt den «KESB-Röstigraben» und verrät ihre Zukunftsvision.

Am 1. Januar 2013 wurde das neue Kindes- und Erwachsenenschutzrecht eingeführt und ersetzte damit das Vormundschaftsrecht von 1912. Was waren die wesentlichen Neuerungen?
Diana Wider: Mehr Selbstbestimmung für die Klientinnen und Klienten, das individuelle Zuschneiden der Massnahmen auf ihre Bedürfnisse nach dem Grundsatz «So viel wie nötig, so wenig wie möglich» und das Überführen der ehemaligen Laienbehörden in die professionellen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB).

Warum hat es für diese Änderungen fast hundert Jahre gebraucht?
Diana Wider: Trotz altem Gesetz entwickelte sich die Praxis analog zum Wandel der gesellschaftlichen Werte weiter. Die gesetzliche Regelung, dass für Kinder unverheirateter Mütter eine Beistandschaft angeordnet werden musste, wurde von der Praxis etwa längst nicht mehr umgesetzt. Mit dem neuen Recht wurden die bewährten Praktiken ins Gesetz aufgenommen. Diente das frühere Vormundschaftsrecht vor allem der Disziplinierung und Kontrolle, steht im heutigen Recht die Förderung der Selbstbestimmung im Vordergrund, weil unsere Gesellschaft Individualität und persönliche Freiheit hoch gewichtet.

Angesichts besonders vulnerabler Zielgruppen, etwa gewaltgefährdete Kinder, erscheint es sinnvoll, dass die Verantwortung Professionellen übertragen wurde. Die KESB wurden aber heftig kritisiert. Wie berechtigt war diese Kritik?
Diana Wider: Interessanterweise gab es eine Art «Röstigraben»: Kritik gab es nur in der Deutschschweiz; in der Romandie blieb sie aus, weil das Vormundschaftswesen dort schon vorher professionellen Gerichten übertragen war. Die Kritik bezog sich also vermutlich eher auf den Systemwechsel als auf die Professionalisierung. An der Vormundschaftsbehörde wurde kritisiert, sie sei zu wenig professionell; bei den KESB hiess es dann, sie seien zu wenig nah dran an den Menschen. Diese Kritik hat etwas bewegt: In den KESB hat man verstanden, dass es nicht reicht, nach fachlichen Kriterien Entscheide zu fällen, sondern dass diese für Laien verständlich und nachvollziehbar erklärt werden müssen. Die KESB mussten sich das Vertrauen der Menschen erst einmal erarbeiten.

Ich wünsche mir, dass die KESB künftig so positiv wahrgenommen wird wie die Feuerwehr: Sie kommt, um zu helfen und zu unterstützen.

Diana Wider

Neben der Professionalisierung war auch die interdisziplinäre Zusammensetzung der KESB-Teams neu. So ist die Soziale Arbeit nun gleichberechtigt involviert. Welchen Mehrwert bringt sie in die Gremien?
Diana Wider: Die Soziale Arbeit vermittelt einerseits als Brückenbauerin zwischen den verschiedenen Disziplinen. Dank ihrer Allzuständigkeit ist sie es gewohnt, mit Referenzdisziplinen zu arbeiten. Andererseits kann sie in wichtigen Themen des Kindes- und Erwachsenenschutzes, die gleichzeitig ihre Kernthemen sind, den Lead übernehmen, etwa bei der Selbstbestimmung, der Partizipation, der Integration und Ermächtigung.

Die KESB setzt sich auch für hilfsbedürftige Erwachsene ein.

Wie würden Sie die Situation rund zehn Jahre nach Einführung des neuen Kindes- und Erwachsenenschutzrechts einschätzen?
Diana Wider: In diesem Bereich hat sich unglaublich viel bewegt, und das immer mit dem Ziel, die Situation der Hilfsbedürftigen zu verbessern. Und das ist gelungen.

Die Soziale Arbeit vermittelt bei der KESB einerseits als Brückenbauerin zwischen den verschiedenen Disziplinen und kann in wichtigen Themen den Lead übernehmen, etwa bei der Selbstbestimmung, der Partizipation, der Integration und Ermächtigung.

Diana Wider

Was ist Ihre Zukunftsvision für den Kindes- und Erwachsenenschutz?
Diana Wider: Dass die KESB so positiv wahrgenommen wird wie die Feuerwehr: Sie kommt, um zu helfen und zu unterstützen.

Diana Wider

Diana Wider

Diana Wider ist Juristin und Sozialarbeiterin. Sie ist seit
vielen Jahren Generalsekretärin der Konferenz für Kindes-
und Erwachsenenschutz (KOKES)
. Als Dozentin und
Projektleiterin am Institut Sozialarbeit und Recht der
Hochschule Luzern – Soziale Arbeit befasst sie sich vor
allem mit rechtlichen und sozialarbeiterischen Aspekten
sowie der interprofessionellen und interorganisationalen
Zusammenarbeit im Kindes- und Erwachsenenschutz.

Kompetenzzentrum Kindes- und Erwachsenenschutz der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit

Das Kompetenzzentrum unterstützt seit zwanzig Jahren Fachpersonen im Kindes- und Erwachsenenschutz bei der Wahrnehmung ihrer anspruchsvollen Aufgaben. Ein interdisziplinäres Team von zehn Personen bietet vom dreijährigen MAS-Programm bis hin zu eintägigen Fachseminaren spezifische Weiterbildungen sowie Dienstleistungen wie Rechtsberatungen oder massgeschneiderte Schulungen an.

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CAS Kindesvertretung/ VerfahrensbeistandschaftKinder und Jugendliche in zivil-, verwaltungs- und strafrechtlichen Verfahren vertreten

Forschungs- und Entwicklungsprojekte im Kindes- und Erwachsenenschutz

Das Kompetenzzentrum führt ferner Forschungs- und Entwicklungsprojekte durch. So werden aktuell im Auftrag von mehreren nationalen Organisationen interdisziplinäre Qualitätsstandards im Kindesschutz erarbeitet. Seit 1994 wird das Generalsekretariat der Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz (KOKES), einer Organisation, welche die Zusammenarbeit der Kantone untereinander, mit dem Bund und nationalen Organisationen koordiniert, an der Hochschule Luzern geführt. Zudem organisiert das Kompetenzzentrum jährlich die Luzerner Tagung zum Kindes- und Erwachsenenschutz sowie die Netzwerktreffen für Leitungspersonen von KESB und Berufsbeistandschaften.

Interview: Eva Schümperli-Keller
Bilder: Getty Images
Veröffentlicht: 31. Mai 2022

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