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«Systemsprenger:innen» entlarven ein überfordertes Hilfesystem

«Systemsprenger:innen» entlarven ein überfordertes Hilfesystem

Jugendliche, die von Institution zu Institution weitergereicht werden und dabei durch alle Maschen fallen, nennt man «Systemsprenger:innen». Miriam Baumeister hat sich in ihrer Bachelor-Arbeit mit ihnen befasst und festgestellt, dass bei hochkomplexen Fällen die Kinder- und Jugendhilfe überfordert ist. Und sie ist der Frage nachgegangen, wie Angebote gestaltet sein müssten, um diese jungen Menschen erfolgreich zu betreuen.

«Den Begriff <Systemsprenger:in> verwende ich eigentlich ungern und deshalb immer in Anführungszeichen. Es gibt aber einfach kein anderes Wort für Kinder und Jugendliche, die wiederholt aus Heimen und anderen Massnahmen herausfallen.» Das sagt Miriam Baumeister. Sie arbeitet als Sozialpädagogin in einem Schulheim mit Sonderschule und Wohngruppen. Im Herbst 2023 hat sie ihr Bachelor-Studium an der Hochschule Luzern abgeschlossen, und zwar mit einer Arbeit über die kantonale Angebotsgestaltung für «Systemsprenger:innen».

Die Bachelor-Arbeit von Miriam Baumeister kann hier heruntergeladen werden: Soziothek

Das Thema Heimerziehung beschäftigt die Mutter eines kleinen Sohnes allerdings schon länger. Vor dem Studium der Sozialen Arbeit hat sie einen Master in Geschichte und Kulturwissenschaften an der Universität Basel abgeschlossen und arbeitet derzeit an ihrer Dissertation. Dabei hat sie im Rahmen eines nationalen Forschungsprojekts die Heimplatzierung von Jugendlichen in der Region Basel zwischen 1950 und 1985 untersucht. «Ich mag das wissenschaftliche Arbeiten, aber auch den Kontakt mit Menschen. In meiner aktuellen Situation mit einer Teilzeitstelle als Sozialpädagogin, dem Schreiben meiner Doktorarbeit und meinen Aufgaben als Mutter kann ich beides verbinden», sagt die 35-Jährige, die sich in ihrer spärlichen Freizeit als Fussballtrainerin von Vorschulkindern engagiert.

26 Kantone, 26 Systeme – und kaum Daten dazu

«Der Begriff <Systemsprenger:in> verortet die Probleme einseitig beim Kind oder Jugendlichen. Dabei ist es das überforderte Unterstützungssystem, das die <Systemsprenger:innen> überhaupt erst produziert», erklärt Baumeister. Das System sei nicht in der Lage, die Jugendlichen zu halten. Die ständigen Umplatzierungen von einer mit der Fallkomplexität überforderten Institution zur nächsten belasteten die jungen Menschen und wirkten sich negativ auf ihre Bindungserfahrungen und den Bildungserwerb aus. Und es handelt sich nicht um Einzelfälle: Hierzulande wird angenommen, dass etwa zehn Prozent der Abbrüche auf «Systemsprenger:innen» entfallen. Genauere Daten oder Studien zu diesem Phänomen fehlen jedoch für die Schweiz. Baumeister bedauert dies ebenso wie die sehr fragmentierte Zuständigkeit in der Schweizer Jugendhilfe: Es gebe 26 Kantone und auch 26 Hilfesysteme. So hänge es zu grossen Teilen vom Wohnkanton ab, was für eine Leistung in welcher Qualität ein Kind oder ein:e Jugendliche:r erhalte.

Das System zeigt seine Mängel

Baumeister geht in ihrer Arbeit mittels Literaturrecherche und Interviews mit Betroffenen und Fachpersonen der Frage nach, welche Faktoren zu wiederholten Abbrüchen führen. Dazu zählen insbesondere Regelverstösse, Gewalt, Delikte, Drogen und Kurvengang, zudem Risikofaktoren wie hochbelastete Familiensituationen, psychische Krankheiten, schulische Probleme und fehlende Zukunftsperspektiven. Zu diesen persönlichen Gründen kommen die systemischen hinzu: Die befragten Jugendlichen kritisierten die Bedingungen im Heim, zu rigide Regeln und die Missachtung ihrer Bedürfnisse und wünschten sich mehr Handlungsfähigkeit, Selbstbestimmung und Partizipation. «Gerade wir Professionellen der Sozialen Arbeit sollten diesem Wunsch entsprechen und alles daran setzen, den Jugendlichen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen», fordert Baumeister.

Die interviewten Fachpersonen benannten vor allem die unzureichende interdisziplinäre Zusammenarbeit als systemischen Risikofaktor. Baumeister ist überzeugt: «Es mangelt nicht an der Fachlichkeit der Einzelnen, sondern es bestehen Mängel am System, insbesondere bei der Kommunikation zwischen den verschiedenen Akteuren des Hilfesystems, aber auch zwischen den Kantonen. Zudem fehlen Strukturen für die institutionenübergreifende Fallbegleitung.»

Mehr Kooperation und Koordination

In ihrer Arbeit gibt Baumeister drei zentrale Empfehlungen ab: Erstens schlägt sie die Einrichtung von (über-)kantonalen Koordinationsstellen für besonders komplexe Fallverläufe wie die der «Systemsprenger:innen» vor. Zweitens müssten die Kinder- und Jugendhilfesysteme der Kantone die Zusammenarbeit interkantonal, regional und zwischen den diversen Akteuren erhöhen. Und drittens sollten die Kantone ihre Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe proaktiv wahrnehmen, und – etwa im Rahmen von Bewilligungsverfahren – in Kooperation mit den Leistungserbringenden das System bedarfsgerecht weiterentwickeln. Die frisch diplomierte Sozialpädagogin fordert: «Aus Sicht der Sozialen Arbeit ist die Situation dieser jungen Menschen, die scheinbar nirgendwo hineinpassen, berufspraktisch wie auch berufsethisch ein unhaltbarer Zustand, der dringend behoben werden muss.»

Von Eva Schümperli-Keller
Bild: Adobe Stock
Veröffentlicht: 19. Februar 2024

Die Abschlusspublikation zum nationalen Forschungsprojekt, an dem Miriam Baumeister als Doktorandin teilgenommen hat, kann hier heruntergeladen werden: Schweizerische Gesellschaft für Geschichte

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Kommentare

2 Kommentare

Rachel Walther

Ein komplexes Problem! Ich frage mich, wie es soweit kommt, dass ein Kind zu einer Systemsprengerin, einem Systemsprenger wird. Wo hat das begonnen? Wie und wo könnte präventiv gearbeitet werden, dass es gar nicht erst soweit kommen muss? Und was geschieht mit diesen jungen Menschen, die scheinbar nirgends gehalten werden können und so noch tiefer in eine Abwärtsspirale geraten? Was muss sich in den Institutionen ändern (personell, betrieblich, baulich, pädagogisch etc.)? Wie können wir die Kinder und Jugendliche gewinnen, sich einzulassen?

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Monique Wittwer

Unglaublich traurig. Diese Kinder und Jugendlichen sprengen das System nicht, sonst würde etwas passieren. Sie fallen leise und unbemerkt durch die unglaublich trägen und für die Betroffenen undurchschaubaren Systeme. Das sind Systemvernachlässigte. Bei den gesetzlichen Grundlagen wurde die Bundesverfassung und das Sonderpädagogik-Konkordat vergessen. Die Systeme haben die Pflicht, sich den Kindern anzupassen und nicht umgekehrt.

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