Gemeinde-, Stadt- und Regionalentwicklung,
Dieser Text handelt vom Zusammenleben in der heutigen Welt. Es geht um die allgegenwärtigen «Blasen», in denen wir leben, und darum, wie wir diese ankratzen und öffnen können. Es geht um die Interaktion verschiedener Menschen, direkt, im Alltag, und darum, wie diese Interaktion und das Zusammenleben organisiert sind. Es geht um die Frage, welche Politik dazu beitragen kann, die «Blasen» durchlässiger zu machen. Und es geht um das menschliche Bedürfnis, sichtbar und spürbar zu sein. Spuren zu hinterlassen.
Gleich und gleich gesellt sich gern, doch so kommen wir nicht weiter
Die Rede von den «Blasen» oder «Bubbles», in denen wir leben, ist nicht neu. Weil wir uns vornehmlich bei Menschen informieren und mit Menschen in Kontakt kommen, die gleich denken wie wir selbst, können wir denken, es gebe quasi nur unsere Meinung. Es ist eine bekannte Tatsache, dass zudem in der algorithmischen Schlaufe «immer mehr vom Gleichen» vorgeschlagen wird, sodass die schon vorgefasste Meinung bestärkt, statt in Zweifel gezogen wird.
Wenn beispielsweise insgesamt Rassismus in der Schweiz abnimmt, so spielen doch auch gruppenbezogene Einstellungen mitunter eine grosse Rolle, wie dieses Beispiel zu politischen Einstellungen junger Frauen und Männer zeigt. Soziale Medien haben erwiesenermassen das Potenzial, bestehende Meinungen zu bestärken und andersdenkenden Content tendenziell auszublenden. Das ist alles hinlänglich bekannt. Was ich hier noch beifügen möchte, ist der Gedanke, dass die Kommunikation über soziale Medien immer aalglatt ist. Soziale Medien riechen nicht, kratzen nicht, wärmen nicht. Digitale Kommunikation kann zwar tief in unsere Gefühle und unsere Seele eindringen, aber einziger körperlicher Kontaktpunkt bleibt die swipende Zeigefingerspitze.
Möglichkeitsräume in der Stadtentwicklung: näher am Menschen dran als gedacht
Auf den ersten Blick mag der Sprung von der Instagram-Community zur Stadtentwicklung gross erscheinen. Im Prinzip ist es jedoch ganz einfach: Wir bewegen uns nicht nur im Netz und auf den sozialen Medien, sondern auch physisch im – städtischen – Raum. Und wie dieser Raum gestaltet ist, beeinflusst unser Denken und unser Handeln, so die These dieses Textes, aber auch des Buches «Designing Disorder», welches hier diskutiert werden soll. Das Buch wurde 2022 von Pablo Sendra und Richard Sennett im Verso Verlag herausgegeben. Der Untertitel lautet: «Experiments and Disruptions in the City». In der partizipativen Stadtplanung und -entwicklung sind partizipativ gestaltete Möglichkeitsräume ein wichtiges Element. Die Stadt der Zukunft soll nicht fertig geplant werden, sondern es soll Raum für flexible, fluide, temporäre und situative Aktivitäten und Lösungen geben. Auf dem Klappentext heisst es: Städte sollen soziale Orte sein, sie sollen «nähren» statt ersticken, sollen zusammenbringen statt auseinanderdividieren.
Die Idee ist nicht neu und basiert auf einem Essay von Richard Sennett aus dem Jahr 1970 mit dem Titel «The Uses of Disorder». Sendras hat diesen Ansatz dann vor allem auf der Ebene der Infrastrukturplanung weitergedacht. Gute öffentliche Räume beispielsweise lassen sich auch in eine Bühne oder in einen temporären Spielplatz verwandeln. Einfacher ist es, wenn schon in der Planung Wasser- und Stromquellen, eventuell unterschiedliche Bodenstrukturen usw. berücksichtigt werden.
Sennett denkt die Stadt als Ort der Begegnung. Begegnung meint auch Irritation, meint auch Konfrontation mit anderen Meinungen, anderen Lebensformen, anderen Perspektiven. Diese Auseinandersetzung mit Andersdenkenden, die durchaus auch konflikthafte Begegnung ist nach Sennett notwendig für das Herausbilden einer erwachsenen Identität. Und eine funktionierende Zivilgesellschaft braucht entscheidungsfähige und denkende Menschen mit einer erwachsenen Identität. Aneignungsprozesse soll es auch in der modernen Stadt geben, wenn möglich über Tagging und Sprayereien hinaus. Gute Stadträume vermitteln nach Richard Sennett Zugehörigkeit und ermöglichen Verantwortung und Zusammenhalt. Fehlen diese Gelegenheiten, kommt es zu Spannungen und Spaltung, statt dass Gemeinsamkeiten gefördert werden. Denn wie in allen Konflikten führt ein gelungener Kommunikationsprozess über die Verständigung zum kleinsten gemeinsamen Nenner, einem gemeinsamen Interesse.
Die Glasfassaden moderner Städte, ihre Impermeabilität, fehlende Ritzen oder Spalten, das alles sind für Sendra und Sennett Elemente, die einer Stadt als Ort der Begegnung abträglich sind, sie in ihrer Funktion und in ihrem Potenzial als sozialem Ort beschneiden. Das Ideal dieser Retortenstädte könnte geradeso gut die polierte Oberfläche eines Smartphones sein, mit einem Panzerglas darauf. Dagegen bieten Trockenmauern Eidechsen und Käfern Unterschlupf, auf rauen Oberflächen wachsen Flechten, in der kleinsten Ritze sammelt sich genug Humus an, um Moose wachsen zu lassen. Flechten an Bäumen gelten als Indikator für saubere Luft, sie dienen grossen Tieren als Futter und kleinen Tieren als Wohnraum.
Hinter den Glasscheiben einer Stadt sind keine Bits und Bytes, sondern Menschen. Und Menschen wollen nicht nur senden, sondern sie brauchen auch Personen, die ihnen zuhören. Zuhören heisst auch mitentscheiden und mitbestimmen lassen. Das gilt gegenüber der Minderjährigen «auf Kurve» genauso wie gegenüber den geflüchteten Menschen, die sich beim Bahnhof versammeln. Zu fragen: «Was ist das Beste für Dich?», ist etwas ganz anderes als – zum Beispiel als professionelle:r Vertreter:in der Sozialen Arbeit – zu sagen: «Xy ist das Beste für Dich.» Zuhören ist schwierig in den Sozialen Medien. Um zuhören zu können, müssen die glatten Fassaden geritzt werden können. Richard Sennett sieht eine offene, poröse Stadt als nicht weniger als eine Demokratie, nicht im rechtlichen, sondern «im taktilen Sinn» (2022: 35, Übersetzung S.G.H.): «Wenn die Stadt als offenes System funktioniert und als durchlässiges Territorium, als unvollständige Form und nicht-lineare Entwicklung, dann wird sie demokratisch, nicht im rechtlichen, sondern im taktilen Sinn.»
Von Instagram ins Quartier – einhaken ist gefragt
Mit dem Taktilen ist sie wieder da, die Berührung, die Erinnerung an das Körperliche, Physische, Organische, Rohe und Raue. Das Anti-Glatte bricht sich Bahn. Es mag faszinierend sein, die Kardashians mit ihren glattgeföhnten Haaren, in Kunstfaser-Leotards gegossenen Körpern und glattgeschminkten Gesichtern zu beobachten. Sich in grossen Glasfenstern reflektierendes Sonnenlicht und glatte Kanten mögen ästhetisch attraktiv sein. Im Zusammenleben im Kleinen und im Grossen jedoch brauchen wir auch Unperfektes, Unabgedichtetes, Offenes, wo wir hineinfassen, uns festhalten, wo wir eingreifen können im wörtlichen und im übertragenen Sinn. Das ist meiner Meinung nach auch der Grund, weshalb die Menschen in dystopischen Zukunftsszenarien stets in Felle gekleidet, mit zerzausten Haaren und in grobem Schuhwerk auftreten, also äusserlich das Gegenteil einer künstlichen und technischen Roboterwelt darstellen.
Als Menschen haben wir das Bedürfnis, unsere Anwesenheit, unsere Präsenz auch im physischen Raum sichtbar zu machen. Spuren zu hinterlassen, als Teil eines asynchronen Zusammenlebens. Dabei kommt der offenen Stadt eine wichtige Rolle zu. Dazu fehlt jedoch noch weitgehend das Verständnis in manchen aktuellen Stadtplanungen. Ordnung wird über Unordnung, Künstliches über Organisches gestellt.
Von: Simone Gretler Heusser
Bild: Adobe Stock
Veröffentlicht: 23. April 2024
Die Dozentin und Projektleiterin ist Verantwortliche des Kompetenzzentrums Zivilgesellschaft und Teilhabe und
bis 2023 Co-Leiterin des Interdisziplinären Themenclusters Digitale Transformation der Arbeitswelt an der Hochschule Luzern. Ihre Schwerpunkte sind Partizipation, demographischer Wandel und soziale Ungleichheit.
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Kommentare
2 Kommentare
Caroline
Was für ein inspirierender Text, liebe Simone! Danke herzlich <3 Machen wir uns auf, zuzuhören und neue Möglichkeiten zu entdecken!
Simone
Danke liebe Caroline! Der Besuch bei Luniq klingt bei mir noch immer nach. Herzlich, Simone
Danke für Ihren Kommentar, wir prüfen dies gerne.