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«Man sollte sie primär als Kinder ansehen, nicht als Flüchtlinge»

«Man sollte sie primär als Kinder ansehen, nicht als Flüchtlinge»

Viele Millionen Menschen sind derzeit auf der Flucht und hoffen auf Asyl, darunter auch viele Kinder und Jugendliche. Gülcan Akkaya, Grund- und Menschenrechtsexpertin der Hochschule Luzern und langjährige Vizepräsidentin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus, schildert im Interview die Situation der UMAs, der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in der Schweiz.

Gülcan Akkaya, warum gibt es so viele minderjährige Flüchtlinge, die noch dazu ganz auf sich allein gestellt sind?
Ganz allgemein hat die Zahl der Menschen auf der Flucht enorm zugenommen. Diese Entwicklung ist auf die vielen Kriege und Konflikte weltweit zurückzuführen – etwa in der Ukraine, in Afghanistan, Syrien sowie im globalen Süden. Viele Konflikte, wie die Bürgerkriege in Äthiopien, im Sudan oder in Eritrea, sind zwar nicht so präsent wie der Krieg in der Ukraine, aber genauso gravierend. Die globale Notlage verursacht für junge Menschen zum einen eine völlige Perspektivlosigkeit. Zum anderen haben viele auch Fürchterliches erlebt und brauchen Schutz vor der Gewalt in ihrem Heimatland.

Wie geht es den Geflüchteten, wenn sie zum Beispiel hier in der Schweiz ankommen?
Die Menschen sind oft jahrelang unterwegs, selbst die Kinder. Unterwegs machen sie Erfahrungen mit Gewalt oder werden Opfer von Schlepperbanden und Menschenhandel.

Was man wissen muss: Es sind darunter wirklich Kinder. Ich kenne Zehnjährige, die alleine sind, weil ihre Familien unterwegs auseinandergerissen wurden. Ein Junge aus Afghanistan erlebte z. B., dass die Polizei seine Familie auf der Flucht nachts aufgriff und er sie so für immer aus den Augen verlor. In Äthiopien berichtete man mir von 200 Kindern, die sich von Eritrea alleine auf den Weg machten und sich schlussendlich bis Griechenland durchschlugen. Andere waren Kindersoldaten. Man kann sich die Schicksale kaum vorstellen.
Daher: Man geht nicht einfach so, sondern weil man Schutz sucht. Und die Eltern, die ihre Kinder wegschicken, tun das, weil sie keinen anderen Ausweg sehen und das Beste für ihre Kinder wollen.

Wie läuft ein Asylverfahren von unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden in der Schweiz ab?
Nach ihrer Ankunft kommen sie in ein Bundesasylzentrum. Die unter Zwölfjährigen versucht man in den Kantonen in spezialisierten Institutionen oder Pflegefamilien unterzubringen. Den Kindern wird eine Betreuungsperson zugewiesen, die auch als Rechtsvertretung fungiert. Ihr Asylverfahren muss prioritär behandelt werden. Wird der Antrag anerkannt, werden sie den Kantonen zugeteilt, wo sie einen Beistand bekommen.

Welche Rechte geniessen die UMAs?
Neben den zivil- und asylrechtlichen Kinderschutzmassnahmen gelten für sie vor allem die Grundrechte der Bundesverfassung (Artikel 11) sowie die UN-Kinderrechtskonvention, die von der Schweiz 1997 ratifiziert wurde.
Bei der Kinderrechtskonvention geht es im Wesentlichen darum, dass jedes Kind gesund, sicher und altersgerecht aufwachsen können soll. Dieses übergeordnete Kindesinteresse muss daher auch bei allen asylrechtlichen Entscheidungen im Mittelpunkt stehen. Demnach haben die UMAs wie alle Kinder ein Recht auf Schutz, auf Bildung, auf Integration und Teilhabe. In den Asylzentren muss dies gewährleistet sein. Dazu müssen sie adäquat betreut und so untergebracht werden, dass sie Rückzugsmöglichkeiten haben und von Erwachsenen und nach Geschlecht getrennt sind.

Es sind Kinder, nicht Kinder zweiter Klasse.

Gülcan Akkaya

Gibt es Zielkonflikte zwischen den Grund- und Menschenrechten und dem Migrationsrecht?
Das Problem ist, dass sie nicht als Kinder wahrgenommen werden, sondern als Flüchtlinge. Das kann zu Einschränkungen bei der Betreuung und Unterbringung führen sowie beim Recht auf Freizeit und Teilhabe. Das ist aber nicht zulässig, denn gemäss Kinderrechtskonvention sollte eben die Schutzbedürftigkeit der Kinder Vorrang haben und nicht der Migrationshintergrund.

Können Kinder auch ausgeschafft werden?
Ja, das ist möglich. In diesen Fällen braucht es umso mehr entsprechende Betreuung. Ein Thema, das mich übrigens hier sehr beschäftigt, sind die Kinder, die untertauchen. Das müsste erforscht werden als Aufgabenfeld des Kinderschutzbereichs und der Sozialen Arbeit.

Das Problem ist, dass sie nicht als Kinder wahrgenommen werden, sondern als Flüchtlinge. Gemäss UN-Kinderschutzkonvention hat aber ihre Schutzbedürftigkeit Vorrang, nicht der Migrationshintergrund.

Gülcan Akkaya

Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) hat von 2021 bis 2022 verschiedene Bundesasylzentren hinsichtlich der Situation der UMAs untersucht. Zu welchen Schlüssen kam sie?
Sie zeigte sich aus mehreren Gründen besorgt. Seit dem letzten Jahr leiden die Zentren sowohl unter Platz- als auch unter Personalmangel, was sich auf die Unterbringung und die Betreuung der UMAs auswirkt. So sei etwa derzeit keine adäquate professionelle, persönliche und kontinuierliche Begleitung möglich. Zudem war die Sicherheit der Schutzsuchenden Thema. Die NKVF empfahl daher Präventionsprogramme und Meldestellen, um die Asylsuchenden vor unverhältnismässigen oder unzulässigen Handlungen zu schützen.

Wie schätzen Sie das ein?
Natürlich muss man anerkennen, dass die Asylzentren angesichts der fehlenden Ressourcen vor grossen Herausforderungen stehen. Aber wenn, wie das NKVF berichtet, sich sozialpädagogische Mitarbeitende zum Teil zusammen mit einigen Betreuungsmitarbeitenden um 70 bis 100 Personen kümmern müssen, entspricht das keiner adäquaten Betreuung mehr. Wir sollten uns als Hochschule daher überlegen, wie wir Bund und Kantone bei der Suche nach Fachkräften unterstützen können. Denn eigentlich ist die Situation vergleichbar mit der in Kinder- und Jugendheimen, wo der Betreuungsschlüssel auch geregelt ist. Die UMAs sollten nicht schlechter gestellt sein. Es sind Kinder, keine Kinder zweiter Klasse.

Wie liessen sich kurzfristig Verbesserungen erzielen?
Es braucht Übergangsmassnahmen. In puncto Unterbringung sind Zivilschutzanlagen aber ganz sicher keine Option, auch nicht für drei Monate. Die sind schlicht nicht menschenwürdig.
Möglicherweise können Studierende der Sozialen Arbeit für Entlastung bei der Personalsituation sorgen.
Vielleicht muss zudem auch deutlicher werden, wie befriedigend die Arbeit mit UMAs sein kann. In den Kindern steckt ganz viel Potenzial. Sie sind resilient und vor allem unglaublich wissbegierig. Das hat sich in meiner Forschungsarbeit immer bestätigt. Sie lernen oft schnell, können in der Schule erfolgreich sein und sich gut integrieren. Wenn wir nicht in diese frühen Jahre investieren, verpassen wir viel. Wenn sie sich aber kindgerecht entwickeln können, ist das ein Gewinn für unsere Gesellschaft und eine Lösung für einige unserer Probleme. Denken wir an den Fachkräftemangel, der ja nicht nur in der Sozialen Arbeit, sondern in allen Branchen herrscht.

Was muss sich weiter grundlegend ändern?
Der Status «vorläufig aufgenommen» muss abgeschafft werden. Das wirkt wie ein Provisorium, dauert aber oft Jahre und verhindert jegliche Perspektive. Die Menschen haben keine Tagesstruktur, können sich nicht frei bewegen oder Arbeit suchen. Denn viele Firmen glauben irrtümlicherweise oft, dass die Menschen bald wieder gehen müssen. So hängen sie einfach in der Luft und sind unter Umständen jahrelang zum Warten verdammt. Bei den Ukraine-Flüchtlingen hat man sehr gute Erfahrungen mit dem Schutzstatus S gemacht. Eine Ausweitung in diesem Sinne wäre also sinnvoll.
Zudem wäre es sehr wichtig, den Menschen sichere Fluchtwege zu ermöglichen, damit sie unterwegs nicht in Lebensgefahr geraten.

Die Kinder haben enormes Potenzial. Sie sind resilient und unglaublich wissbegierig. Es lohnt sich in sie zu investieren.

Gülcan Akkaya

Sie haben mehrere Bücher zu Grund- und Menschenrechten in der Sozialen Arbeit verfasst. Das Jüngste befasst sich mit just den Grund- und Menschenrechten von Flüchtlingen, ein anderes mit den von Sozialhilfebeziehenden oder von Menschen mit Beeinträchtigung. An wen richten sich diese Leitfäden?
Da der Bedarf gross ist, kam die Anregung aus der Praxis. Die Bücher wurden gewissermassen für und mit der Praxis entwickelt und richten sich an Fachpersonen, Behörden und Hilfsorganisationen.
In allen geht es um besonders verletzliche Personen. Denn das Recht ist ja vor allem für die Schwächsten da, so sagt es auch die Präambel der Bundesverfassung. Weder die Sozialhilfe noch das Asylwesen sind rechtsfreie Räume, es gibt aber ethische Spannungsfelder, die nicht immer einfach zu lösen sind. Mit unseren Leitfäden wollen wir die Praxis, Fachpersonen und Sozialtätige für die Menschenrechte sensibilisieren und eine Orientierungshilfe geben.

Sie geben dazu auch Fachseminare. Weshalb sind diese Seminare wichtig?
Die Seminare vertiefen die Themen, die in den Büchern behandelt werden. Worauf man bei den Grund- und Menschenrechten achten muss, wird auf die Praxis heruntergebrochen. Dazu bringen die Teilnehmenden ihre Fragen, Fallbeispiele und Bedürfnisse ein. Aufgrund der Aktualität bieten wir nun neu auch ein Seminar zur Flüchtlings- und Asylthematik an.

Möchten Sie noch etwas ergänzen?
Grund- und Menschenrechte müssen im Alltag gelebt werden, sonst bleiben sie tote Buchstaben. Mit der Sensibilisierung der Akteur:innen geht die Entwicklung voran. Sie wollen gute Arbeit leisten, brauchen aber mehr Ressourcen, um ihrem Auftrag gerecht zu werden. Ich würde mir daher wünschen, dass sich die Schweiz für bessere Rahmenbedingungen zu Gunsten der schutzsuchenden Kinder einsetzt. Ganz im Einklang mit ihrer humanitären Tradition.

Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF)
Zwischen Februar 2021 und Oktober 2022 hat die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) insgesamt 17 Besuche in Bundesasylzentren in der ganzen Schweiz durchgeführt. Die Kommission überprüfte die Lebensbedingungen der asylsuchenden Personen in den Unterkünften, speziell die Betreuung und Unterbringung von UMAs.

Gülcan Akkaya

Dr. Gülcan Akkaya

Gülcan Akkaya ist Dozentin und Projektleiterin am Institut für Soziokulturelle Entwicklung und seit 2018 auch Lehrbeauftragte im Masterstudiengang «Soziale Arbeit und Menschenrechte» an der Alice Salomon Hochschule in Berlin. Die Sozialarbeiterin und promovierte Politikwissenschaftlerin war unter anderem von 2008 bis 2019 Vizepräsidentin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR). Zu ihren Schwerpunkten zählen: Grund- und Menschenrechte, Migration, Rassismus.

Buch und Fachseminar zu Grund- und Menschenrechten im Asylbereich
Gülcan Akkaya, Peter Frei, Meike Müller (2022). Grund- und Menschenrechte in der Asyl- und Flüchtlingsarbeit – Ein Handbuch für die Praxis. Interact Verlag.
Das Buch kann über den Interact-Verlag bezogen werden.

Fachseminar Grund- und Menschenrechte in der Asyl- und Flüchtlingsarbeit
Das Fachseminar zeigt auf, wie die Sozialdienste und Asylbehörden in konkreten Situationen grundrechtskonforme Entscheidungen treffen können. Anhand von konkreten Praxisbeispielen werden die Spannungsfelder aus grundrechtlicher und ethischer Perspektive herausgearbeitet und konkrete Lösungen aufgezeigt. Hier mehr erfahren.

Interview: Anette Eldevik
Veröffentlicht am: 13. September 2023
Foto: Getty Images

Kommentare

1 Kommentare

Simone Gretler Heusser

Vielen Dank für diesen wichtigen und dringenden Artikel. Dass geflüchtete Kinder in der Schweiz nicht den nötigen Schutz und die nötige Unterstützung erhalten, ist beschämend.

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