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Suchthilfe: Gutes Angebot – verbesserungswürdige Zugänglichkeit und Zusammenarbeit

Suchthilfe: Gutes Angebot – verbesserungswürdige Zugänglichkeit und Zusammenarbeit

Die kantonale Suchthilfe wurde in einer mehrjährigen Studie der Hochschule Luzern analysiert. Co-Autorin Manuela Eder spricht über die Ergebnisse des Projektes, die Qualität des Angebotes und was die Forschenden Bund und Kantonen empfehlen.

Manuela Eder, Sucht wird in Fachkreisen als biopsychosoziales Phänomen gesehen und somit als komplexes Querschnittsthema. Was ist damit gemeint?

Sucht ist eine Abhängigkeitserkrankung auf körperlicher, psychischer und sozialer Ebene. Oft führt ein Zusammenspiel dieser Faktoren dazu, dass sich eine Abhängigkeit entwickelt. Umgekehrt wirkt sich eine solche aber auch auf alle drei Bereiche aus. Von daher ist es auch klar, dass eine Behandlung nicht durch eine Profession allein abgedeckt werden kann. Auf der übergeordneten Ebene muss die Gestaltung der Suchthilfe daher auf eine interdisziplinäre Zusammenarbeit der Behörden setzen, angefangen bei der Bildung, dem Gesundheit- und Sozialwesen bis zur Justiz.

Städte wie Zürich galten in den 90ziger-Jahren als Vorreiterinnen, wenn es darum ging, suchtbetroffenen Menschen ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen. Wie steht es um die Schweizer Suchthilfe jetzt, dreissig Jahre nach Letten und Platzspitz?

Ja, das stimmt, damals übernahm man hierzulande tatsächlich ein Pionierrolle. Denken wir an die Konsumräume oder die kontrollierte Abgabe von Methadon. Diese Angebote stehen exemplarisch für den Aufbau der Schadens- und Risikominderung – also das Bestreben, die medizinischen, rechtlichen oder sozialen Risiken der Sucht zu verringern. Die damaligen Neuerungen hatten eine nachhaltige Wirkung und haben vielen Betroffenen eine normale Lebenserwartung ermöglicht.

Umgekehrt hat das Verschwinden der offenen Drogenszene das Thema aber auch etwas aus dem allgemeinen Bewusstsein verdrängt. Dadurch ist es vielerorts politisch zu einem Stillstand gekommen. Während sich die Suchthilfe in einigen Kantonen noch auf den Gesetzesgrundlagen der 90er-Jahre stützt, wird sie auf nationaler Ebene nach wie vor auf Basis des Betäubungsmittelgesetzes gesteuert. Dieses ist auf Prohibition und Repression ausgerichtet. Das ist nicht mehr zeitgemäss und führt zum einen dazu, dass Personen, die illegale Substanzen konsumieren, sich aus Angst vor einer Strafverfolgung oft keine Hilfe suchen, und zum anderen aber auch, dass die Finanzierung der Hilfsangebote auf nationaler Ebene nicht geregelt wird.

Die Folge: Während fachlich seither viele Fortschritte erzielt und laufend verbesserte Konzepte und Behandlungen entwickelt worden sind, haben sich die nationalen und kantonalen Strukturen, in denen die Suchthilfe eingebettet ist, leider nicht im gleichen Tempo mitentwickelt.

Spezifisch beschäftigte sich die Studie nicht mit dem Thema Sucht an sich, sondern mit den unterschiedlichen Angeboten der Suchthilfe. Welche Angebotstypen gibt es eigentlich hierzulande?

Im Rahmen der Studie ist es gelungen, die unterschiedlichen Angebote in Typologien einzuteilen. Das gibt den Kantonen erstmals die Möglichkeit, ihre Inventare miteinander zu vergleichen, was vorher nicht möglich war. Dabei haben wir rund 30 Angebotstypen in vier Bereichen definiert – in der Beratung, der Gesundheitsförderung/Prävention, der Schadensminderung/Überlebenshilfe sowie im Vollzug.

Auch wenn die Angebote in den Kantonen unterschiedlich sind, gibt es insgesamt ein grosses Spektrum, von niederschwelligen, aufsuchenden Angeboten bis hin zu stationären sozialtherapeutisch und medizinisch begleiteten Aufenthalten. Dazu kommen diverse institutionelle oder ambulante Angebote in den Bereichen Arbeitsintegration, Wohnen oder Tagesstrukturschaffung. Spezifische Angebote für Personen in prekären Lebenslagen wie Housing First, also ein bedingungsloses Obdach ohne Abstinenznachweis, für Suchtbetroffene im Strafvollzug oder für Angehörige sind weitere Beispiele für die sehr professionelle Palette in der Schweiz.

Dazu verfügt jeder Kanton über eine Suchberatungsstelle mit Präventionsangeboten oder mit medizinischer und sozialtherapeutischer Beratung. Man kann sich auch im Netz Hilfe holen, etwa über SafeZone.ch. Eine unabdingbare Rolle in der Suchthilfe spielen übrigens die Hausärztinnen und Hausärzte. Sie übernehmen einen absolut zentralen Teil der Aufgaben.

Was lässt sich sonst zur Situation in der Schweiz sagen?

Wie gesagt, die Angebote sind hochstehend. Aber sie sind mitunter schwer zugänglich. Es gibt zum Beispiel Beratungsstellen, die sich nur an Erwachsene richten oder solche, die zwischen illegalen oder legalen Substanzen unterscheiden. Was aber, wenn man sich Pillen aus dem Darknet besorgt oder mit 16 ein Drogenproblem hat? Muss man dann warten, bis man 18 ist? Oder was ist, wenn es im Kanton, in dem man wohnt, kein passendes Angebot gibt?

Mit solchen Hürden schliesst man notleidende Menschen aus. Der Zugang zu Beratung und Hilfe muss immer gewährleistet sein. Wir raten dringend zu einer Flexibilisierung der Angebote und einem Abbau der Beschränkungen. Es braucht also eine Gesetzesreform sowohl auf Bundes- als auch auf Kantonsebene.

Der Zugang zu Beratung und Hilfe muss immer gewährleistet sein.

Manuela Eder

Was muss sich sonst verbessern?

Ebenso hapert es an der Zusammenarbeit auf der übergeordneten politischen Ebene, wo alles gesteuert wird. Das gilt sowohl inner- als auch interkantonal. Dadurch kommt das Potenzial des guten Angebotes nicht zum Tragen.

Aber auch auf Fallebene wird die Vernetzung offenbar noch nicht genügend mitgedacht. Die verschiedenen Leistungserbringenden im medizinischen als auch im sozialtherapeutischen Bereich übernehmen häufig aus «Goodwill» Koordinations- und Kooperationstätigkeiten. Die Suche nach geeigneten Nachsorge- oder Überbrückungslösungen übersteigt jedoch häufig die vorhandenen Ressourcen und sie bleiben oft auf ungedeckten Kosten sitzen.

Was würden Sie hier empfehlen?

Wir empfehlen daher, die inner- und interkantonale Zusammenarbeit zu verstärken. So könnten sich Kantone in Konkordaten zusammenschliessen oder zumindest regionale Vereinbarungen treffen. Auf diese Weise wäre zum einen eine gemeinsame Planung und Weiterentwicklung der Angebote möglich. Zum anderen werden Über- bzw. Unterangebote verhindert, da sie von mehr Betroffenen genutzt werden könnten. Diese Reflexion muss übrigens auch viel mehr als bisher mit den Fachpersonen zusammen umgesetzt werden, denn sie sind am nächsten an den Betroffenen dran und kommen auch für ihre Leistungen auf.

Im Projekt zeigte sich auch, dass ein regelmässiger Fachaustausch unter den Leistungserbringenden sehr wertvoll ist. Insbesondere, um gemeinsam Herausforderungen zu besprechen oder Entwicklungstrends zu identifizieren. Idealerweise nehmen daran auch Personen aus der Verwaltung teil – aus Schulen, Polizei und Justiz oder auch aus Bereichen, die auf den ersten Blick nicht relevant erscheinen, wie Altersheime oder Spitexdienste. Risikoverhalten kann nämlich auch erst im Alter entstehen. Beispiele dieser Art gibt es bereits: Das Forum Suchtmedizin etwa organisiert regelmässige Veranstaltungen für Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte und im Kanton Zug liess sich so ein tolles Netzwerk aus Verwaltung und Praxis aufbauen.

Die Schweizer Suchthilfe ist professionell. Ihr Potenzial käme aber besser zum Tragen, wenn die Kantone besser zusammenarbeiten würden.

Manuela Eder

Gibt es niederschwellige und kostengünstige Massnahmen, wo insbesondere die Kompetenzen der Sozialen Arbeit hilfreich wären?

Ja, gerade wenn es darum geht, die Hilfen zugänglicher zu machen. Denn obwohl Abhängigkeit als Krankheit anerkannt ist, leiden nach wie vor sehr viele Betroffene und ihre Angehörigen an den Folgen der Stigmatisierung. Entsprechend gross ist oft der Leidensdruck, bis man sich Hilfe holt. Man geht daher davon aus, dass viele noch nicht vom Angebot erreicht werden. Das können eben Kinder und Jugendliche sein, vulnerable Menschen oder Personen ohne Aufenthaltsstatus, aber auch Menschen, die beruflich exponiert sind, etwa in der Gastronomie. Umso wichtiger, dass man mehr auf sie zugeht. Niederschwellige, aufsuchende Hilfen in den Lebenswelten der Betroffenen scheinen da sehr naheliegend.

Bei Jugendlichen etwa könnte es hilfreich sein, wenn Konsum und Abhängigkeit etwa in der Berufsausbildung thematisiert werden könnten. Berufsbildner:innen sind wichtige Bezugspersonen für die Lernenden, sie sind viel mit ihnen zusammen und könnten punkto Sensibilisierung vermutlich viel erreichen. Vielleicht wäre dies eine sinnvolle Weiterbildung?

Diese Vorschläge könnten ja auch in Form von Pilotversuchen umgesetzt werden, die man wissenschaftlich begleitet und evaluiert. Wirkungsevaluationen stellen eine belastbare Grundlage für Reformen dar.

Es braucht nachhaltige Finanzierungsmodelle, die soziale und medizinische Angebote gleichermassen berücksichtigen und dabei auch die Schnittstellen- und Vernetzungsarbeiten abdecken.

Manuela Eder

Möchten Sie noch etwas ergänzen?

Ja, aus wissenschaftlicher Sicht braucht es in diesem Bereich eine bessere Datengrundlage. Es gibt kaum einheitliche Vorgaben bei der Datenerhebung, sodass viele Dienstleistende nur lückenhaft Auskunft geben können. So lassen sich nur schwer bedürfnisgestützte Angebote entwickeln, wie man es auch aus der Medizin kennt (Stichwort Gesundheitspfade). Um den Betroffenen besser helfen zu können, müssen wir mehr über sie wissen – selbstverständlich unter Einhaltung des Datenschutzes.

Abschliessend möchte ich gern nochmals betonen: Die Schweizer Suchthilfe ist professionell und fortschrittlich. Nun geht es darum, dass sie ihr Potenzial besser entfalten kann. Wir sind davon überzeugt, dass dies mit einer besseren Zusammenarbeit auf allen Ebenen, mit einem geregelten, interdisziplinären Austausch sowie mit Hürdenabbau und Entstigmatisierung erreicht werden kann.

Interview: Anette Eldevik
Bild: Getty Images
Veröffentlicht am: 14. Dezember 2023

Manuela Eder

Manuela Eder

Manuela Eder ist Soziologin und als Expertin für Gesundheitliche Ungleichheit und Gestaltung sozialer Versorgung am Institut für Institut für Sozialmanagement, Sozialpolitik und Prävention (ISP) tätig. Sie ist eine der Co-Autorinnen der Studie «Grundlagen für die Steuerung im Bereich der Suchthilfe», die unter der Leitung von Prof. Dr. Jürgen Stremlow verfasst wurde.

Studie «Grundlagen für die Steuerung im Bereich der Suchthilfe»
In 22 Kantonen fanden von Oktober 2021 bis April 2022 Erhebungen zum Angebot, den Angebotsbeständen und der Nutzung im Fokusbereich «Beratung, Therapie, und Wohnen», der Steuerung sowie zu den Entwicklungstrends in der Suchthilfe statt. Die Erhebung umfasste: schriftliche Befragungen und Telefoninterviews bei 22 kantonalen Beauftragten für Suchtfragen bzw. deren Vertretungen; eine schriftliche Befragung von 189 leistungserbringenden Organisationen mit 301 Fragebögen; eine Sekundäranalyse der medizinischen Statistik der Krankenhäuser durch das schweizerische Gesundheitsobservatorium (OBSAN); 20 Fokusgruppen-Interviews mit insgesamt 181 Expertinnen und Experten der kantonalen Suchthilfesysteme. Die Analysen wurden in separaten Kantonsportraits aufbereitet. Sie bilden die empirische Grundlage dieses Berichts. Mehr zur Studie finden Sie hier.
Die Fragmentierung und hohen Zugangshürden der Angebote wurden in verschiedenen Medien besprochen. Siehe etwa Luzerner Zeitung vom 20. November 2023 (Paywall).

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