Soziokultur

Ein Doyen der Soziokultur ist an Corona gestorben

Ein Doyen der Soziokultur ist an Corona gestorben

Eloquenz und Analyse

Traurig, jetzt kenne ich persönlich eine Person, die an Corona gestorben ist. Jean-Claude Gillet ist am 20. November im Süden von Frankreich gestorben. Ich kenne kaum jemanden, der so in Europa, in Südamerika und Nordafrika mit der Szene der Soziokultur vernetzt war. Er war der Gründer des Internationalen Netzwerkes der Soziokulturellen Animation (R.I.A.). Der erste internationale Kongress zur Soziokultur fand Ende der 90iger Jahren in Bordeaux an der Université de Montaigne statt. An diesem ersten Treffen waren Forschende, Ausbildner/innen und Pratiker/innen aus fast ganz Europa zusammen (fast, weil Jean-Claude die nordeuropäischen und die angelsächsischen Regionen eigentlich immer verschlossen blieben).

Wir können, ohne zu übertreiben sagen, dass wir in Luzern von Jean-Claude viel lernen durften. 2007 haben wir gemeinsam mit dem Netzwerk erfolgreich den internationalen Kongress nach Luzern an die Hochschule Luzern gebracht. Gillets Impulse waren für unseren Studiengang und unsere Praxisorganisationen sehr wichtig. Ich bin sicher nicht alleine, wenn ich behaupte, dass Jean-Claude für die Soziokulturelle Animation viel geleistet hat und dass sein Hinscheiden eine grosse Lücke hinterlässt. Wir alle haben ihn von unseren Kongressen in Bordeaux, Sao Paulo, Luzern, Saragossa, Montreal, Paris, Algier in Erinnerung. Er war eine unwahrscheinliche vitale Persönlichkeit, die ihre Anliegen mit grosser Überzeugungskraft und grossem Gestaltungswillen vorgebracht hat. Er war ein grosser Netzwerker, er konnte überzeugen und motivieren. Ich habe in diesen Tagen im Buch, welches wir 1998 für unsere Studierenden und Dozierenden übersetzt haben «Animation. Der Sinn der Aktion», wieder ein paar Artikel gelesen. Sie sind immer noch aktuell. Themen wie Konsum anbieten, Bindung herstellen, Demokratie einüben, freiwilliges Engagement fördern sind heute immer noch von Bedeutung. Mich faszinierte immer auch seine politische Analyse. Neben diesen Kongressen war er mehrmals Gast bei uns an der Hochschule. Ich erinnere mich, als ein Student fragte, «wie würden Sie Herr Gillet in einer kurzen Form die Soziokultur definieren?»: Wie aus einer Kanone geschossen sagte er: «Soziokultur ist die alltägliche Arbeit an der Demokratie». An diesem Anlass sagte er auch: «Um die Spielregeln des Zusammenlebens in unseren Gemeinden zu verändern, müssen die Animatoren und Animatorinnen die Mechanik der Politik und der Administrationen gut kennen, ansonsten bewegen sie nichts». Für Gillet waren gute Berufsleute solche, die sich einmischen, sich engagieren, die bewegen wollen und die immer noch träumen können. Das sind Träume über eine gerechtere und eine solidarischere Welt. Beim letzten Treffen im November 2019 in Lausanne sagte er in seiner Eröffnungsrede: «Utopien beflügeln, ermöglichen Neues und ermöglichen soziale Innovation». Gut glauben Animatoren und Animatorinnen noch an Utopien. Ich gehöre auch zu denen.

Bernard Wandeler
Dozent und Projektleiter der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit


Demokratie Gestalten

«Soziokultur ist die alltägliche Arbeit an der Demokratie», sagte Jean-Claude Gillet. Soziokultur ist das abstrakte Konzept der Demokratie in den Alltag geholt. Ins Konkrete, Kleine. Dorthin, wo wir unser Leben gestalten können, wo wir Einfluss haben, wo wir Entscheidungen treffen und wo wir handeln können, auch wenn wir keine Machtposition in der Gesellschaft innehaben. Soziokultur ist Alltag, und Soziokultur ist Arbeit. Alltag im Sinn von «courant normal», vom Unspektakulären, im Sinn von dem, was nicht besonders oder ausserordentlich ist. Arbeit im Sinn von sinnhaftem Tun, von verantwortlichem Handeln. Soziokultur entsteht im Handeln, in der Interaktion. Im Jugendtreff, wenn Jugendliche nicht nur eine Aktivität ausüben wie etwa am «Töggelikasten» spielen, sondern in Aktion kommen. Also zum Beispiel streiten über unterschiedliche Werte. Oder sich über die Klimakrise unterhalten. Und dann ein Transparent für die nächste Demo malen. Oder sich dagegen entscheiden und weiter zusammenspielen, eine Beziehung untereinander aufbauen, sich ausprobieren. Soziokultur ist Praxis. Soziokultur ist der «Digi-Treff» in Luzern: Als ältere Person mit dem Laptop, dem Smart Phone oder dem Tablet in den Digi-Treff gehen und zusammen mit einer Animatorin und anderen interessierten Laien die Gebrauchsanleitung lesen oder einfach ausprobieren, bis es funktioniert… Soziokultur lebt. Soziokultur ist realisiertes Demokratiepotenzial. Danke Jean-Claude Gillet für das Konsum-Transfer-Modell, danke für diese praktische Theorie.

Simone Gretler Heusser
Dozentin und Projektleiterin der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit


Au Revoir!

Jean-Claude Gillet hat mich geprägt! Im Bachelorstudium lernte ich seine Philosophie und sein Konsum-Transfer Modell kennen. Damals verstand ich ihn nicht kognitiv, sondern intuitiv. Seine Ausführungen erzeugten in mir eine Resonanz. Jean-Claude Gillet half mit, meine berufliche Identität zu finden.  Sein Konsum-Transfer Modell gibt mir noch heute Orientierung in meinem professionellen Handeln. In der Praxis erkenne ich immer wieder die Bedeutung seiner Worte. Kurz, Jean-Claude Gillet wurde mein treuer Begleiter, ohne dass ich ihn persönlich kennenlernen durfte.  Seine Texte geben mir den Mut zu scheitern, mich einzumischen und daran zu glauben, dass Unmögliches möglich wird. Seine Philosophie dient mir als Kompass in dieser stürmischen Zeit. Unzählige Wandlungsprozesse prägen unser Zusammenleben und es ist wichtig, dass wir zusammenstehen und uns für mehr Solidarität und Gerechtigkeit einsetzen. Jeden Tag erhalten wir eine neue Chance etwas zu bewegen, zu gestalten. Nun ist Jean-Claude Gillet tot und hat uns Adieu gesagt. Ich sage au revoir, à demain, wir arbeiten weiter an der Demokratie!

Christa Schönenberger
Ehm. Studentin der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit


Episoden mit Jean-Claude Gillet

Als wir uns in den 1990er Jahren daranmachten, den Ausbildungsgang für soziokulturelle Animation, zusammen mit den damaligen Schulen für Sozialarbeit, in die damals neu zu gründende Fachhochschule zu integrieren, war uns das Theoriedefizit der SKA im deutschen Sprachraum überaus bewusst. Unsere Anfrage bei den Genfer Kollegen und Kolleginnen nach einem französischen Standardwerk ergab eine klare Antwort: «Jean-Claude Gillet: Animation. Le sens de l’action». Und so kam es, dass der – ursprünglich einzig für die SKA gegründete – interact Verlag die ambitiöse Übersetzung des besagten Werks ins Deutsche in Angriff nahm. Als Verlagsgründer durfte ich (mit desolaten Französischkenntnissen) die Verhandlungen mit dem Autor und dem Verlag führen. Heinz Wettstein – frankophon-affiner Pionier der Soziokulturellen Animation in der Deutschschweiz – übernahm die Übersetzung. Gemeinsam rangen wir um Begriffe, Verständnisse und Deutungen dieses reichhaltigen Werks. Jean-Claude Gillet brachte viel Geduld und Verständnis für dieses sich in die Länge ziehende Projekt auf, und gleichzeitig wuchs unser Verständnis der Positionen und deren Hintergründe des Werks. Dadurch konnte nicht nur ein gewichtiger theoretischer Pflock für die Ausbildung eingeschlagen werden, sondern auch ein lebhafter Austausch über die Sprach- und Landesgrenzen hinweg etabliert werden.

Als ich Jean-Claude zum ersten Mal am Bahnhof Luzern abholte, zeigte er sich als erstes erstaunt über die chaotische Menge Velos vor dem Portal: «Tant de vélos!», worauf wir uns lebhaft über Stadtökologie und -politik unterhielten. So war Jean-Claude Gillet: Neugierig, interessiert, weltoffen, humorvoll, bodenständig und immer auch wieder philosophisch. «Mit den Füssen im Dreck und dem Kopf in den Wolken». So oder ähnlich lautet eines der schönsten Beschreibungen, mit dem er die Attitude von Soziokulturellen Animatoren und Animatorinnen umschrieb, die ich von seinem Hauptwerk in Erinnerung behalte.

Alex Willener
Dozent und Projektleiter der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit


Bourdieu und Gillet

Vor über zwei Jahrzehnten beendete ich einen dreivierteljährigen Forschungsaufenthalt bei Pierre Bourdieu in Paris und stiess bald danach zur Studienrichtung der Soziokulturellen Animation an der Hochschule Luzern. Hier wurden mir drei Bücher in die Hand gedrückt. Alle drei erhielten vom Verlag denselben identitätsstiftenden roten Buchumschlag. Diese Farbe war für die Publikationen der Soziokulturellen Animation reserviert. Die drei Werke sind in der deutschen Schweiz bereits Klassiker der Soziokultur geworden. Von den dreien war das Werk von Jean-Claude Gillets, veröffentlicht unter dem ebenso schlichten wie eleganten Titel «Animation», der sperrigste. Das schien mir reizvoll. Hocherfreut bemerkte ich, dass Gillet aus keiner anderen Quelle mehr schöpfte als aus dem Werk Bourdieus – neun Titel sind im Quellenverzeichnis des Buchs aufgeführt. Ob sich der Professor aus Bordeaux und der soziologische Grossmeister vom Collège de France in Paris jemals begegnet sind, weiss ich nicht. Gewiss wären sie sich in vielen Diskussionspunkten einig gewesen. Es überraschte mich denn wenig, dass Gillet bereits auf den ersten Seiten seines Buchs die «Forschung über Animation» als Praxeologie kennzeichnet und sie versteht als «Bewegung des Hin und Hers zwischen dem Gelebten, dem Handeln und dem Denken». Gleich anschliessend stellt er die zwei grundlegenden «Modellformen» der Animation vor. «Konkrete Animation» fokussiere auf Konsum, «abstrakte Animation» dagegen auf Austausch, auf Transfer. Letztere kümmere sich um «die Frage, die jede Gesellschaft betrifft: die der Strukturierung des sozialen Bandes, das sie zusammenhält». In der Folge hat die Soziokulturelle Animation in der Schweiz die professionelle Zuständigkeit für den sozialen Zusammenhalt in ihr Zentrum gerückt. Leider werden wir Gillets Werk im deutschen Sprachraum mangels Übersetzungen keineswegs gerecht. Es bestehen grosse Rezeptionslücken. Sie zu schliessen vermöchte in diesem traurigen Moment vielleicht ein wenig Trost zu spenden.

Gregor Husi
Dozent und Projektleiter der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit


Grundlage für den Unterricht

Über 10 Jahre bin ich im Unterricht mit Studierenden des Soziokultur-Hauptstudiums den Fragen nachgegangen, was die Selbstorganisation von Adressaten und Adressatinnen in der Praxis fördert oder eben verhindert, welche Rollen und Aufgaben Animatoren und Animatorinnen in Animationsprozessen wahrnehmen und wie Studierende ihre eigene Praxisorganisation bezogen auf die Aktivitätsförderung ihrer Adressaten und Adressatinnen analysieren und beurteilen können. Dabei waren uns die beiden Basismodelle von Jean-Claude Gillet – das «konsumistische Modell und das Model der abstrakten Animation» resp. das Konsum-/Transfermodell mit seinen 14 Fallstudien – wegweisende Grundlage im Unterricht.

Ich gebe es gerne zu, das fundierte Standartwerk von Jean Claude Gillet aus dem Jahr 1998 «Animation. Der Sinn der Aktion» war für mich und sicherlich auch für viele Studierende zuweilen eine Herausforderung zu lesen, manchmal bereitete dieses Lesen mehr Last als Lust, aber letztendlich ergab es eben doch immer «Sinn».

Unvergessen bleiben mir die Diskussionen im Unterricht, wenn wir uns mit dem «Animactor strategicus» auseinandergesetzt haben. Eine sprachliche Neubildung von Jean-Claude Gillet, die den handelnden Charakter der Fachperson besser hervorhebt und darauf verweist, dass Animatoren und Animatorinnen die Komplexität verschiedener Strategien zwischen Akteuren und Akteurinnen aus Politik, Verwaltungen, Bevölkerung sowie den Adressatinnen  und Adressaten der Animation erkennen und begreifen müssen, wenn sie in der Alltagswirklichkeit ihrer Praxis bestehen wollen.

Die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Berufsrolle im Rahmen des Unterrichtes auf den Grundlagen von Jean-Claude Gillets Überlegungen, haben bei vielen Studierenden aber auch bei mir nachhaltige Wirkungen hervorgerufen. So verweisen Studierende auch in Fallwerkstätten oder Bachelor-Arbeiten immer wieder auf die Theorien von Jean-Claude Gillet. Seine Haltung beeinflusst ihr berufliches Handeln noch heute. Das Modelverständnis von Jean-Claude Gillet hat vielen Studierenden geholfen, ihre Praxisrealitäten zu erkennen, zu begreifen, um letzten Endes fachlich abgestützt auch eingreifen zu können.

«Der Autor zeigt, wie Animation einen Beitrag zur Bewältigung der sozialen und politischen Krisen der heutigen Zeit leisten kann. Dabei ist die Animation in seinen Augen der Akupunktur näher, die den Organismus durch Stimulation anregt, sich selber zu heilen, als der klassischen Medizin, welche Medikamente verschreibt, die nur der Arzt kennt.» Dieses Zitat zu seinem Buch «Animation» verdeutlicht am besten, weshalb Jean-Claude Gillet mir als Animatorin und Dozentin in Erinnerung bleiben wird.

Jacqueline Wyss
Dozentin und Projektleiterin der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit

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