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Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung: ein Schweizer Stiefkind

Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung: ein Schweizer Stiefkind

Investitionen in die familienergänzende Kinderbetreuung lohnen sich. Die ersten Lebensjahre eines Kindes sind prägend für seinen späteren Entwicklungsverlauf. Diesen frühen Lernprozess sollten in Kitas, Spielgruppen, Hausbesuchsprogrammen und Tagesfamilien gut ausgebildete Betreuungspersonen in existenzsichernden Arbeitsverhältnissen begleiten. Eine Studie der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit zeigt auf, dass in der Schweiz in diesem Bereich vieles im Argen liegt.

Welche Ausbildung braucht eine Person, die Kleinkinder betreut? «In der Schweiz herrscht leider vielerorts noch die Meinung vor, die familienergänzende Betreuung kleiner Kinder erfordere kein spezifisches Fachwissen und entsprechend auch keine hochstehende Qualifikation.» Das sagt Martin Hafen, Dozent und Projektleiter an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit. Er hat sich zusammen mit Claudia Meier Magistretti und Natalie Benelli im Rahmen einer Studie mit der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE) in der Schweiz befasst. Und ist vom Gegenteil überzeugt: «Je jünger die Kinder, desto besser sollten die Betreuungspersonen ausgebildet sein.» Dies belegten auch erfolgreiche Ansätze in anderen Ländern.

Eine Investition in die Zukunft
Eine gute FBBE leistet einen wichtigen Betrag an die kognitive, psychosoziale und gesundheitliche Entwicklung eines Kindes. Sie erweitert zudem die Handlungsspielräume der jungen Familien und fördert die berufliche Weiterentwicklung der Mütter. Schliesslich bietet sie ein interessantes und anspruchsvolles Tätigkeitsfeld für frühpädagogisches Fachpersonal. Investitionen in die Ausbildung der Fachpersonen und in angemessene Arbeitsbedingungen bilden entsprechend die Grundlage für eine qualitativ gute FBBE. Der volkswirtschaftliche Nutzen dieser Investitionen ist umfassend belegt. Trotzdem wird in der Schweiz im internationalen Vergleich und im Verhältnis zum formalen Bildungssystem sehr wenig in die FBBE investiert.

«Der FBBE-Bereich ist hochgradig systemrelevant. Er braucht dringend mehr Anerkennung und Ressourcen. Zum Wohl der Kinder, ihrer Familien und der Gesellschaft.»

Martin Hafen

Am falschen Ort gespart
Die dürftigen Investitionen zeigen sich unter anderem in der unzureichenden Qualifikation der Mitarbeitenden in diesem Bereich. Viele verfügen über keine fachspezifische Qualifikation, sind also nicht für diese Tätigkeit ausgebildet. Trotzdem betreuen sie Kinder auf eigene Verantwortung. «Wenn man die Spielgruppen mitrechnet, verfügen mehr als die Hälfte der Mitarbeitenden in FBBE-Institutionen über keine staatlich anerkannte spezifische Ausbildung», erläutert Hafen.

Die Studie der drei Forschenden setzt sich mit den Arbeitsbedingungen dieser nicht formal qualifizierten Betreuungspersonen auseinander. Sie zeigt unter anderem auf, dass die FBBE-Institutionen infolge des Fachkräftemangels und der geringen staatlichen Subventionen oft gar nicht in der Lage sind, ausreichende Ressourcen in deren Begleitung, Weiterbildung und weitergehende formale Qualifizierung zu investieren.

Schwierige Arbeitsbedingungen
Die Studie zeigt überraschend deutlich, dass die Arbeitsumstände nicht nur für die nicht formal Qualifizierten untragbar sind. Der Bereich ist so stark unterfinanziert, dass die aus wissenschaftlich-fachlicher Sicht angezeigte pädagogische Qualität auch von formal qualifiziertem Personal nicht garantiert werden kann. Dies führt unter anderem dazu, dass auf den systematischen Einsatz von unzureichend Qualifizierten gar nicht verzichtet werden kann. Und dies, obwohl die fachliche Qualifikation der Mitarbeitenden ein wichtiges Qualitätskriterium der FBBE ist.

«In der Schweiz herrscht leider vielerorts noch die Meinung vor, die Betreuung kleiner Kinder erfordere kein spezifisches Fachwissen. Dabei ist es umgekehrt: Je jünger die Kinder, desto besser sollten die Betreuungspersonen ausgebildet sein.»

Martin Hafen

Dringend gesucht: Anerkennung und Geld
Die Arbeit im dauernden Personalnotstand ist schwierig, die gesellschaftliche Anerkennung gering. «Der Verdienst ist oft zu tief, um über eine Pensionskasse versichert zu werden. Somit sind ausgerechnet die Menschen von Altersarmut betroffen, die sich um unser wertvollstes Gut, unsere Kinder, kümmern», bedauert Hafen und fordert mehr Wertschätzung und Investitionen. Zum Beispiel, um Qualifizierungsprogramme für Quereinsteiger:innen zu finanzieren. «Der FBBE-Bereich ist hochgradig systemrelevant. Er braucht dringend mehr Anerkennung und Ressourcen. Zum Wohl der Kinder, ihrer Familien und der Gesellschaft.»

Autorin: Eva Schümperli-Keller
Bild: Getty Images
Veröffentlicht am 7. September 2023

Hochaktuelles Thema
Das Bundesparlament diskutiert aktuell auch über eine verstärkte Bundesunterstützung von Betreuungskosten. Der Nationalrat hat unlängst ein Subventionierungsprogramm verabschiedet, das nun beim Ständerat hängt. Dieser ist auf die sogenannte Kita-Vorlage eingetreten, will aber noch ein weiteres Finanzierungsmodell prüfen.
Die Kita-Vorlage des Nationalrats beinhaltet neben finanzieller Unterstützung für die einzelnen Familien auch Mittel zur Qualitätsverbesserung der Angebote. Die Verantwortung dafür liegt aber bei den Kantonen und Gemeinden. Durch Rahmengesetzgebungen und Leistungsaufträge könnten die FBBE-Institutionen zur Qualitätssicherung verpflichtet werden. Dazu müssen jedoch auch die notwendigen finanziellen und personellen Ressourcen bereitgestellt werden.

Weitere Infos
Alle Details zur Untersuchung sowie die Studie selbst (als Vollversion und Management Summary) finden sich hier.
Martin Hafen im Interview bei Tele 1.

Martin-Hafen-Profilbild

Prof. Dr. Martin Hafen

Martin Hafen war von 2001 bis zu seiner Pensionierung im August 2023 als Dozent und Projektleiter an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit im Institut für Sozialmanagement, Sozialpolitik und Prävention tätig. Der Sozialarbeiter und Soziologe hat eine Theorie zu Prävention und Gesundheitsförderung entwickelt, die auf der soziologischen Systemtheorie basiert. Ausserdem ist er ein landesweit anerkannter Experte für frühkindliche Entwicklung.

Claudia Meier Magistretti HSLU

Prof. Dr. Claudia Meier Magistretti

Claudia Meier Magistretti war an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit u. a. als  Forschungsleiterin am Institut für Sozialpädagogik und Bildung tätig. Die Psychologin arbeitet aktuell  psychotherapeutisch in Bern und Kirchlindach, wissenschaftlich an der Hochschule für Angewandte Psychologie der FHNW und am Institut für Elementarpädagogik der Carl Franzens Universität Graz. Sie ist Vizedirektorin für Globale Partnerschaft der IUHPE (International Union of Health Promotion and Education), Leiterin des WHO-Sounding-Boards zu Planetary Health und Verfasserin von zahlreichen Forschungsberichten und Büchern zu Früher Förderung und Salutogenese.

Dr. Natalie Benelli

Natalie Benelli forschte in zahlreichen Projekten zu arbeitssoziologischen und sozialpolitischen Themen, einschliesslich der Arbeitsbedingungen von Care-Arbeitenden und Reinigungspersonal. 2010-2013 war sie PostDoc-Research Scholar an der New York University und der Università di Milano-Bicocca. In ihrer aktuellen Forschungstätigkeit befasst sie sich mit den Arbeitsbedingungen auf dem ergänzenden Arbeitsmarkt.

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