Soziokultur

Jeder Mensch

Jeder Mensch

Es ist eine seltsame Ambivalenz, die das Lebensgefühl vieler Menschen prägt: Auf der einen Seite sind die Möglichkeiten vielfältig und die Freiheiten gross. Wen wir lieben, wie wir leben, was wir arbeiten, wo wir wohnen – noch nie konnten wir das (zumindest idealerweise) in diesem Mass selbst bestimmen. Auf der anderen Seite erscheint alles Entscheidende so abgeschlossen und abgetrennt von unserem Leben. Klimakatastrophe, Kapitalozän, Weltpolitik: Welchen Unterschied kann da jede*r von uns persönlich machen? Spielt es eine Rolle, ob ich kompostiere und nicht Auto fahre, mich nicht an spekulativen Börsengeschäften beteilige und immer brav abstimmen und wählen gehe? Und erst die digitale Transformation: Algorithmen, die ich nicht kenne und nicht verstehe, steuern mein Leben. Mit jedem Klick fliessen Daten und Informationen zu den «seigneurs 3.0» welche damit mehr Macht und Geld erlangen als Nationalstaaten. Big Data, Künstliche Intelligenz und Robotik revolutionieren die Gesellschaft.

Technologien sind das eine, mit all ihren Implikationen wie etwa der unglaubliche Energiebedarf der Bitcoin-Ökonomie oder die ökologischen Folgen des Abbaus von seltenen Erden. Das andere sind die sozialen und ethischen Dynamiken, welche viele Menschen wahlweise ignorieren oder verdrängen. Auch hier die gefühlte Machtlosigkeit: welchen Unterschied macht es, wenn ich bei «alle Cookies akzeptieren» «nein» klicke? In diesem schliddernd-undefinierten Szenario meldet sich nun Ferdinand von Schirach, Jurist und Autor. Er präsentiert ein winzig kleines Buch, es umfasst alles in allem kaum mehr als dreissig Seiten. Was er vorschlägt, ist nichts weniger als eine weitere, erweiterte und ergänzende Deklaration von Grundrechten. Die Grundrechte sollen jedem Menschen zustehen (logisch, es sind ja Grundrechte). Es sind nur sechs Artikel, der ganze Text hat auf einer Postkarte Platz. Der erste Artikel sichert mit dem Titel «Umwelt» jedem Menschen das Recht zu, in einer gesunden und geschützten Umwelt zu leben. Zwei Artikel befassen sich mit digitalen Transformationen unseres Lebens: Artikel 2 fordert «digitale Selbstbestimmung» und verbietet die «Ausforschung oder Manipulation von Menschen». Gemäss Artikel 3 zur Künstlicher Intelligenz hat jeder Mensch das Recht, «dass ihn belastende Algorithmen transparent, überprüfbar und fair sind». Ausserdem müssen «wesentliche Entscheide» von Menschen getroffen werden. Ein Artikel zu Globalisierung könnte aus der Konzernverantwortungsinitiative abgeschrieben worden sein. Er sichert den Menschen zu, dass nur «Waren und Dienstleistungen angeboten werden, die unter Wahrung der universellen Menschenrechte hergestellt und erbracht werden». Artikel 4 hält fest, Menschen hätten ein Recht darauf, dass Amtsträger*innen die Wahrheit sagen. Der letzte Artikel schliesslich hält das Recht jedes Menschen fest, «wegen systematischer Verletzungen dieser Charta Grundrechtsklage vor den Europäischen Gerichten zu erheben». Das Manifest hat einen kollaborativen Charakter. Per QR-Code im Buch oder über die Website kann man für die neuen Grundrechte stimmen. Die neuen Grundrechte wurden erstmals im April 2021 veröffentlicht. Bis jetzt haben rund 250’000 Personen unterzeichnet. Das nächste Ziel sind 300’000 Unterschriften. Kleine Bemerkung am Rande: auf der Homepage jeder-mensch.eu blicken einen lauter weisse Gesichter an – etwas befremdlich.

Wer nun fragt, wie eine solche Erklärung umgesetzt werden kann, ob sie überhaupt etwas bringt und so weiter: den grössten Teil des Postkartenbuchs braucht von Schirach für eine dramatische Geschichte der bisherigen Menschenrechtserklärungen – die jeweils exklusiv für Menschen, Land und Güter besitzende, weisse Männer galten und auch von solchen verfasst wurden. 1789 sagten sich 13 der britischen Kolonien in Nordamerika von England los. Die Erklärung beginnt mit den Worten: «Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind, (…)». Das «selbstverständlich» fügte Benjamin Franklin anstatt Thomas Jeffersons ursprünglicher Wendung «heilig & unbestreitbar» ein. 1789 löste die «Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte» die Französische Revolution aus. «Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es», steht im ersten Artikel. Beide Deklarationen, das betont von Schirach, waren Utopien, meilenweit von den Lebensrealitäten der Menschen entfernt. Die austarierte «Charta der Grundrechte der Europäischen Union» von 2009 hat ein anderes Problem: nur 12 Prozent der Menschen in Europa kennen die Charta überhaupt – und sie ist nicht einklagbar, auch wenn sie systematisch verletzt wird. Deshalb schlägt Ferdinand von Schirach eine Erweiterung um, von denen er sich eine ähnliche Kraft erhofft wie sie in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika und dem Basisdokument der Französischen Revolution liegen – auch wenn oder gerade, weil die sechs Artikel utopisch anmuten.


Dieser Artikel wurde am 12. Dezember 2021 von Simone Gretler Heusser verfasst und auf dem Soziokulturblog veröffentlicht.

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