Devianz, Gewalt und Opferschutz,
In den Schweizer Medien wird immer wieder über sexuelle Belästigung und Gewaltverbrechen in öffentlichen Verkehrsmitteln berichtet. Der öffentliche Verkehr ist einer der wichtigsten öffentlichen Räume, in denen die Menschen Angst vor Kriminalität erleben. Ein einseitiger Blick auf Sicherheit kann aber dazu führen, dass bestimmte Gruppen, die schon diskriminiert werden, noch weiter an den Rand gedrängt werden.
In einem vom SBB Research Fund geförderten Projekt, haben wir am Institut für soziokulturelle Entwicklung (ISE) das Sicherheitsempfinden sowie Ängste und Erfahrungen mit Aggression, Belästigungen und Übergriffen im öffentlichen Bahnverkehr der Schweiz untersucht. Wir haben hierfür vertiefte Gruppen- und Einzelinterviews mit 16 Bahnreisenden aus der Deutschschweiz und Romandie durchgeführt, die selbst Übergriffe oder Belästigungen an Bahnhöfen oder in Zügen erlebt haben.
Am ISE interessieren wir uns dafür, wie öffentliche Räume von unterschiedlichen Personengruppen gleichberechtigt genutzt werden können. Das Bahnhofumfeld stellt hierbei eine besondere Herausforderung dar, da Bahnhöfe in den Medien oft als Orte der Gewalt und Kriminalität im Rampenlicht stehen. Wir wissen aus der Forschung, dass mediale Darstellungen nicht nur das individuelle Sicherheitsempfinden prägen, sondern auch dazu beitragen, dass Sicherheit bzw. Unsicherheit mit spezifischen Räumen verknüpft werden.
Die vollständige Studie «Öffentliche und sichere Räume für alle» ist online einsehbar.
Die Anwesenheit stigmatisierter Gruppen an Bahnhöfen kann das Unsicherheitsgefühl verstärken, auch wenn von ihnen keine Gefahr ausgeht.
Die Anwesenheit stigmatisierter Gruppen an Bahnhöfen kann das Gefühl der Unsicherheit zusätzlich verstärken, auch wenn von diesen Gruppen keine tatsächliche Gefahr ausgeht. Unsere Interviews zeigen, dass marginalisierte Personengruppen, wie migrantisierte junge Männer oder wohnungslose Menschen, oft allein durch ihre Präsenz als bedrohlich wahrgenommen werden. Diese Wahrnehmung wird durch mediale Darstellungen verstärkt, die gezielt bestimmte Bilder von «Opfern» und «Täter:innen» verbreiten. In den Medien werden marginalisierte Gruppen, wie zum Beispiel als Ausländer:innen wahrgenommene Personen, überproportional oft als Täter dargestellt. Das fördert Stereotypen und Diskriminierung.
Zur Einordnung unserer Forschungsdaten verwendeten wir darum in unserer Studie einen Sicherheitsbegriff, der den Fokus nicht primär auf das Abwenden von Gefahr legt, sondern auf eine gleichberechtige Nutzung öffentlicher und halböffentlicher Räume abzielt. Für uns ist also Sicherheit «nicht nur die Abwesenheit von Bedrohungen gegen Leib und Leben, sondern auch die Eliminierung von Ungerechtigkeit und Ungleichheit» (Stachowitsch & Binder, 2017, S. 10). Uns war es wichtig, mit einem erweiterten Sicherheitsbegriff zu arbeiten, da in Sicherheitsdebatten marginalisierte Gruppen oft als Sicherheitsbedrohung stigmatisiert werden.
Tatsächlich zeigt die Forschung aber, entgegen diesen medialen Bildern, dass strukturell diskriminierte Personengruppen im öffentlichen Raum besonders gefährdet sind, Kriminalität, Belästigung und andere Formen von Gewalt zu erleben. Dies zeigte sich auch in unseren Daten. Einige Teilnehmende erzählten von verbalen, rassistischen Vorfällen, die sie selbst erlebt oder bezeugt haben. Gerade bei Erfahrungen, die strukturell diskriminierte Gruppen betreffen, zeigt sich jedoch eine weitere Schwierigkeit, nämlich, dass Übergriffe oft normalisiert und verharmlost werden.
Die Forschungsliteratur attestiert einen Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Normalisierung von sexueller Belästigung und der persönlichen Einordnung solcher Vorfälle. Dies zeigte sich auch in unseren Daten. Es wurde sichtbar, dass die Interviewten sexuell motivierte Übergriffe unterschiedlich bewerten. Während eine interviewte Frau unerwünschte Berührungen melden würde, erklärte eine andere Interviewpartnerin, dass sie als Servicekraft in der Gastronomie bereits Erfahrungen mit grapschenden Kunden gemacht hätte, sich selbst wehren könne und demnach so einen Vorfall nicht melden würde. Ein weiterer Interviewpartner, der einen körperlichen Übergriff bezeugte, entschied sich gegen eine Meldung, da in seinen Worten schlussendlich nichts passiert sei. Die persönliche Einstufung solcher Vorfälle als «weniger schwer» wirkte sich in unseren Beispielen somit negativ auf das Meldeverhalten aus.
Während dieser empfundene Schweregrad eine individuelle Komponente hat, lässt sich die Interpretation einer solchen Situation nicht von der Bewertung durch die Gesellschaft loslösen. In der Literatur wird Normalisierung als eine der Hürden für die Meldung eines Vorfalles angesehen. Oft werden sexuelle Belästigungen als ein alltägliches, zu erduldendes soziales Ärgernis angesehen. Studien zeigen jedoch, dass ein verstärktes Meldeverhalten zu einem positiven Wandel führen kann. Deshalb ist es wichtig, nicht nur Vorfälle zu melden, sondern auch öffentlich darüber zu sprechen. Das Meldeverhalten hängt stark davon ab, wie sensibilisiert die Gesellschaft für das Thema ist.
In Sicherheitsdebatten ist es entscheidend, soziale Ungleichheiten und strukturelle Diskriminierung hervorzuheben, um Stigmatisierungen und Vereinfachungen zu vermeiden.
In Sicherheitsdebatten ist es entscheidend, soziale Ungleichheiten und strukturelle Diskriminierung hervorzuheben, um Stigmatisierungen und Vereinfachungen zu vermeiden. In unserer Studie war es also wichtig, von einem Sicherheitsverständnis auszugehen, das nicht die Stilisierung von Problemgruppen oder Angstorten reproduziert oder gar verstärkt. Gerade strukturell diskriminierte Gruppen sind oft Opfer von Übergriffen, die verharmlost werden, was sich negativ auf das Meldeverhalten auswirkt. Mit einem Sicherheitsverständnis, das darauf abzielt, dass öffentliche Räume gleichberechtigt genutzt werden, können Massnahmen formuliert werden, die Nutzungskonflikte entschärfen und das Sicherheitsempfinden aller Menschen im öffentlichen Bahnverkehr ernst nehmen.
Von: Stefanie Boulila
Bild: Adobe Stock
Veröffentlicht: 1. Oktober 2024
Stefanie Boulila ist Forschungsverantwortliche am Institut für Soziokulturelle Entwicklung. Die Fachfrau für Gleichstellung und Antidiskriminierung hat zudem 2021 als erste Schweizerin den Emma Goldman Award erhalten, einen renommierten Preis für innovative Arbeiten im Feld der feministischen Sozialwissenschaften in Europa. Ihre Monografie «Race in Post-racial Europe: An Intersectional Analysis» wurde «als Pflichtlektüre» für Politikerinnen und Politiker sowie Forschende bezeichnet, die sich mit der Bekämpfung von Diskriminierung befassen.
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Kommentare
1 Kommentare
Simone
Danke für diesen spannenden Text - ich finde ihn auch im Hinblick auf die Zukunft sehr relevant. Wir müssen wieder lernen, uns irritieren zu lassen von anderen und anderem. Das gehört zum Leben und zum Zusammenleben, finde ich.
Danke für Ihren Kommentar, wir prüfen dies gerne.