Sozialmanagement und Sozialpolitik,
Seit 40 Jahren hätte frau einen verfassungsmässigen Anspruch auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Dennoch ist das bis heute nicht verwirklicht. Expertin Lucia Lanfranconi erklärt, woran es liegt und warum es sich für Firmen lohnt, Lohn- und Chancengleichheit nachweisen zu können – am besten mit Zertifikat!
Für Lanfranconi scheint das Thema Beruf und Berufung zugleich zu sein. Auslöser war ihre Dissertation, in der sie die Umsetzung des Schweizer Gleichstellungsgesetzes von 1996 in Politik und Unternehmen aufarbeitete: «Es reichte mir dann aber nicht, ein Buch darüber zu schreiben. Ich wollte mit der Bevölkerung in Austausch kommen.» Mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds SNF realisierte sie die Webseite gleichstellen.ch und den Film «Gleichstellung – eine Momentaufnahme», den sie bis heute an Podien in der ganzen Schweiz zeigt, um Diskussionen anzustossen. Seitdem hat sie unzählige Forschungsprojekte durchgeführt – zuletzt an der renommierten Berkeley Universität in Kalifornien – Gleichstellungsberichte und -interventionen auf nationaler und kantonaler Ebene durchgeführt (kürzlich für den Kanton Luzern und aktuell für den Kanton Basel-Stadt), Organisationen und Führungskräfte beraten, an Schulen und Universitäten Lehrende und vor allem Lernende sensibilisiert, zahlreiche Medienanfragen beantwortet und so, zusammen mit ihren ebenso engagierten Fachkollegen- und kolleginnen, das Thema unermüdlich vorangetrieben. Ein Projekt, das ihr dabei besonders am Herzen liegt, ist der Verein VCLG, der Organisationen zertifiziert, die den Handlungsbedarf erkannt haben und von sich aus aktiv etwas unternehmen möchten.
Traditionelle Rollenbilder in Lohnsystemen eingelagert
Wo klemmt es also? Warum beträgt der Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern immer noch durchschnittlich 19 Prozent? «Darauf gibt es keine einfache Antwort», meint Lanfranconi. «Sicher hat es damit zu tun, dass die Durchsetzungsmechanismen für eine wahre Gleichstellung in der Schweiz zu schwach sind, obwohl wir rechtlich eigentlich gute Voraussetzungen hätten.» Denn an sich ist das Grundgesetz konkret und fordert explizit «Gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit». Aber weder die Verfassung noch das spätere Gleichstellungsgesetz bieten genügend griffige Durchsetzungsmechanismen mit Sanktionen.
Die Schweiz schaut Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern dann als gerechtfertigt an, wenn sich das Bildungsniveau, Dienstalter, berufliche Stellung oder Komplexität des Aufgabenbereichs unterscheiden. Es gibt aber Unterschiede, die nicht objektiv erklärbar sind und gemäss Bund dazu führen, dass frau Lohneinbussen von bis zu monatlich 686 Franken hinnehmen muss. «In diesen Fällen liegen die Unterschiede etwa daran, dass viele Lohnsysteme noch immer eingelagerten Rollenbilder haben», sagt Lanfranconi. Männern werden etwa durch die traditionellen Muster per se oft höhere Einstiegslöhne geboten. Das kann die ganze spätere Laufbahn beeinflussen. Einmal höher eingestuft, bleibt die Lohnschere bestehen oder wird sogar grösser, sollten die Frauen irgendwann beruflich an die berühmte gläserne Decke stossen. «Frauen haben es immer noch schwerer, Karriere zu machen. Auch wenn sie gern mehr arbeiten möchten, bietet man ihnen häufig Teilzeitstellen an, dies hat gerade ein kürzlich von meiner Kollegin Gesine Fuchs und mir durchgeführtes Gleichstellungsbarometer zu Erwerbsarbeit und unbezahlter Care-Arbeit gezeigt. Selbst ein Kinderwunsch wird in bestimmten Lebensphasen einfach als gegeben angenommen, auch wenn jemand den gar nicht hat. Es ist also oft nicht die reale Situation, die Einfluss nimmt, sondern die angenommene.»
Das geschieht oft unbewusst und ist nicht nur von der jeweiligen Unternehmenskultur abhängig. Auch sozioökonomische und gesellschaftspolitische Faktoren oder individuelle Einschätzungen können etwa eine Rolle spielen. Das Schneckentempo in der Schweizerischen Gleichstellungspolitik der letzten Jahrzehnte hat also viele Ursachen.
Hoffnungsschimmer am Horizont?
Mittlerweile könnte sich aber ein leiser Hoffnungsschimmer abzeichnen. Auch wenn es immer noch nicht erste Priorität geniesst, wie Lanfranconi sagt, scheint das Verständnis für Gleichstellung und Diversity teilweise ein wenig grösser geworden zu sein, ebenso wie die Offenheit einiger Männer für Themen wie Co-Leitungen, Teilzeitarbeit oder Elternzeit. Auch auf Bundesebene ist die Beseitigung der Lohndiskriminierung ein Anliegen. So wurde 2020 das Gleichstellungsgesetz revidiert und um eine Pflicht für Arbeitgebende zu einer betriebsinternen Lohngleichheitsanalyse ergänzt. Dafür stellt der Bund das kostenloses Standard-Analyse-Tool Logib zur Verfügung. Lanfranconi arbeitet seit mehr als zehn Jahren mit diesem Tool im Auftrag von Unternehmen, dem Bund, Kantonen oder auch Gerichten.
Noch besser wäre es allerdings, wenn man nicht nur den Lohnaspekt berücksichtigen würde, sondern auch die Chancengleichheit als Ganzes. Denn so könnten die Unternehmen dem Gleichstellungsgesetz noch mehr gerecht werden und Diskriminierungen auch generell an der Wurzel packen. Um interessierte Organisationen zu unterstützen, hat sie mit Gesine Fuchs und zwei Führungskräften aus der Privatwirtschaft den Verein VCLG ins Leben gerufen.
Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels sind Firmen, die Chancen- und Lohngleichheit ausweisen können, im Vorteil. Das ist ein ganz starker Hebel für die Rekrutierung.
Lucia Lanfranconi
Im Einsatz für die Chancengleichheit
Lanfranconi, Fuchs und Kolleginnen haben für den Verein Chancen- und Lohngleichheit VCLG, der unter anderem vom Eidgenössischen Büro für Gleichstellung EBG unterstützt wurde, ein Modell entwickelt, mit dem Chancengleichheit in Unternehmen auf einer wissenschaftlichen Grundlage gemessen und zertifiziert werden kann. Dabei rücken auch weitere Dimensionen in den Fokus, wie etwa: Wie sind die Arbeitsbedingungen, wie ist die Geschlechterverteilung unter den Beschäftigten, wie sind die Rekrutierungs- und Beförderungsprozesse sowie die Vereinbarkeit gestaltet oder ist man vor sexueller Belästigung geschützt? Die Untersuchung ist im Übrigen neutral und will bewusst die Entwicklungschancen beider Geschlechter fördern, schliesslich gibt es ja auch Branchen, wo Männer einen schwereren Stand haben.
Mit einem CLG-Zertifikat kann man wirklich von sich behaupten, das Gleichstellungsgesetz in seiner Komplettheit einzuhalten.
Lucia Lanfranconi
Vorteile des Zertifikats: Gutes Image und dankbare Mitarbeitende
Die Vorteile eines solchen Zertifikats liegen auf der Hand. Arbeitgebende, die damit Chancen- und Lohngleichheit nachweisen können, können sich positiv positionieren: «Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels ist das super. Damit verfügt man über einen starken Hebel für die Rekrutierung.» Stellensuchende achten nämlich auf das Image einer Organisation und umgekehrt verdanken die Mitarbeitenden faire Bedingungen mit höherem Engagement und grösserer Loyalität. Namhafte Firmen oder Behörden bestätigen, dass es positiv war, sich zertifizieren zu lassen.
Der Verein bietet drei abgestufte Zertifizierungslevels an, damit die Unternehmen optimal abgeholt werden können. Die Methode baut auf der langjährigen Kompetenz der Verantwortlichen auf und garantiert massgeschneiderte Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen. Dabei ist Lanfranconi eines besonders wichtig: Die Analysen dienen der Bedarfserhebung und der Weiterentwicklung. Man ist keinesfalls defizit- oder nur frauenorientiert: «Es braucht ein Miteinander für Veränderungen. Wenn wir in unseren Erhebungen auf Gruppen treffen, die aus Männern und Frauen bestehen, ist das besonders wertvoll. Es ist so toll, zu sehen, wie aus ihren Inputs konkrete Massnahmen werden. Darum ist jede Analyse, jedes Hinsehen und jede Erkenntnis wichtig und trägt zum Weiterkommen bei.»
Auch wenn der Weg noch lang ist, sind es diese positiven Erlebnisse, die Lanfranconi nicht resignieren lassen. Drücken wir daher allen Beteiligten den Daumen, dass ihr grosses Engagement bald Früchte trägt!
Die Expertin für Gleichstellung Lucia Lanfranconi ist seit 2015 Dozentin und Projektleiterin an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit und dort auch Verantwortliche des Kompetenzzentrum Organisation des Sozialwesens und gesellschaftliche Teilhabe. Die Forschungsschwerpunkte der promovierten Soziologin sind unter anderem Sozialpolitik, Organisationen des Sozialwesens, Gleichstellungs- und Familienpolitik, Migration und Integration, Armut und prekäre Lebenslagen, Sozialhilfe sowie Organisationsentwicklung.
Projekte und Plattformen
Zu den wichtigsten Plattformen von Lucia Lanfranconi zählen gleichstellen.ch, der Verein VCLG sowie die soeben ins Leben gerufene Diversity-Plattform der Departemente Soziale Arbeit und Wirtschaft. Dieses Netzwerk ist darauf spezialisiert, private und öffentliche Institutionen mit Forschung und Dienstleistungen im Bereich Diversity zu unterstützen. Anfang Juni 2022 erfolgte der erste Netzwerkanlass, weitere sind geplant.
Aus- und Weiterbildungen im Bereich Soziale Arbeit
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Von: Anette Eldevik
Veröffentlicht: 16. August 2022
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