Gemeinde-, Stadt- und Regionalentwicklung,
Vom 10. bis 12. Juli 2024 fand in Lissabon der 11. internationale Kongress der Soziokulturellen Animation statt. Unter dem Thema «Demokratie und Partizipation» wurden verschiedene Projekte vorgestellt und zahlreiche Diskussionen geführt. Besonders beeindruckend war für Rahel Müller, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziokulturelle Entwicklung, der Besuch im genossenschaftlich verwalteten Quartier Marvila, das sich erfolgreich gegen die Aufwertung wehrt.
Marvila, ein Stadtteil von Lissabon, liegt versteckt zwischen Autobahnauffahrten, einer Vorortszuglinie und ausgetrockneten, überwucherten Brachen. Während auf der anderen Seite der Autobahn kräftig gebaut und aufgewertet wird, herrscht zwischen den zweigeschossigen Häuschen mit lauschigen Vorplätzen eine fast dörfliche Atmosphäre. Hier durften wir, eine Gruppe von Teilnehmenden des Kongresses, die Associação de Produtividade de Auto Construção (PRODAC) besuchen, was so viel heisst wie Verein zur Selbstkonstruktion. Wie kommt es, dass ein kleines, genossenschaftlich verwaltetes Quartier bis heute der Aufwertung trotzt?
Der 11. Kongress «Réseau International de l’Animation Socioculturelle» ist eine vom gleichnamigen, internationalen Netzwerk organisierte Veranstaltung, die alle zwei Jahre in einem der Länder stattfindet, die dem Netzwerk angehören. Ziel des Kongresses ist es, zur Weiterentwicklung von Theorie und Praxis der soziokulturellen Animation beizutragen und die Zusammenarbeit zwischen Forschenden, Dozierenden, Studierenden und Entscheidungsträgern zu fördern.
Màrio Palma, Soziokultureller Animator bei der PRODAC, erzählt uns von deren Ursprüngen. Mitte des 20. Jahrhunderts kamen zahlreiche von Armut betroffene Menschen aus ländlichen Gebieten in die Stadt und erbauten auf dem Gelände des Marvila-Quartiers notdürftige Hütten. Die Situation wurde von der Stadt eher geduldet denn gern gesehen. In den frühen 70er Jahren, kurz vor der Nelkenrevolution in Portugal wurde die PRODAC gegründet. Ziel war es, die Instandsetzung und Regularisierung des Quartiers. In mehreren Schritten gelang es der Genossenschaft, gemeinsam mit der Stadt die Infrastruktur zu verbessern und nach der Jahrtausendwende wurden dann auch die Eigentumsverhältnisse legalisiert und geregelt.
Bereits in den Anfängen der Genossenschaft wurden Schulen, ein Gesundheitszentrum sowie ein Quartierzentrum gegründet, wo Màrio angestellt ist. Hier startet unser Rundgang durchs Quartier. Rasch wird klar: Nebst der dörflichen Idylle bestehen auch viele Herausforderungen. Es ist wohl kein Zufall, dass gerade hier mehrere grosse Hochhäuser mit Sozialwohnungen stehen, die in unterschiedlich gutem Zustand sind.
Besonders spannend sind die Begegnungen mit den Bewohner:innen. Alle paar Schritte bleiben wir stehen und hören den Menschen zu, die uns von den vielen hart erkämpften Verbesserungen erzählen. Beispielsweise wurden in den verwahrlosten Innenhöfen Gemeinschaftsgärten angelegt, die von Bewohner:innen gemeinsam gepflegt werden. Ein stolzer Bewohner zückte flugs ein Taschenmesser und gab uns allen einen Strauss duftenden Lavendel mit auf den Weg.
Eine weitere Initiative betrifft die Brache zwischen den Hochhäusern und der Zug Linie. Dort fanden immer wieder Autorennen statt, was gefährlich für die spielenden Kinder war. Die Bewohner*innen haben sich vor 8 Jahren organisiert und bei der Stadt den Wunsch nach einem Park deponiert. Eine der engagierten Frauen meinte, «wenn der Park nicht für meine Kinder ist, dann ist er halt für meine Enkelkinder». Nach dem Regierungswechsel und der Pandemie konnten wir bei unserem Besuch die ersten Schritte der Umgestaltung beobachten.
Es hat es mich enorm berührt und inspiriert, dass die engagierten Personen offensichtlich nicht zum privilegierten Teil der Stadtbevölkerung gehören, aber mit grosser Klarheit, Ausdauer und der Unterstützung von Màrio und seinem Team ihre Bedürfnisse bei der Stadt geltend machen. Einer der engagierten Männer erwähnte, dass er von der Roma-Community sei, sich hier aber zugehörig fühle und sie so gemeinsam etwas verändern könnten. Vor lauter spannenden Geschichten kommt unsere Gruppe fast nicht vorwärts – nach fast vier Stunden kommen wir müde aber begeistert wieder im Quartierzentrum an.
Die PRODAC macht einige wichtige Elemente des zentralen Themas des Kongresses sichtbar: Demokratie erfordert Partizipation und Partizipation im Sinne der Soziokulturellen Animation bedeutet immer auch Bottom-up-Prozesse (vgl. Stade, 2019). Diese sind manchmal klein und fein und manchmal entspringt ihnen Sichtbares wie im Fall des Stadtparks. Pascal Tozzi, der Präsident des RIA, führte in seinem Vortrag aus, dass es der Soziokulturellen Animation gelingen muss, die wachsende Wut und Resignation gegenüber den Institutionen aufzufangen, diskutierbar zu machen und diese Emotionen nicht dem Populismus zu überlassen. Nur so kann die Soziokulturelle Animation zu einer besseren, gerechteren Demokratie beitragen. Dass dies nichts Neues ist, ist klar. Gleichzeitig erscheint mir diese Erkenntnis mit den erstarkenden, populistischen Strömungen in Europa von grosser Wichtigkeit.
Von: Rahel Müller
Bilder: Rahel Müller, Nelson d’Aires
Veröffentlicht: 26. September 2024
CAS Gemeinde- und Stadtentwicklung im Wandel
Das CAS-Programm Gemeinde- und Stadtentwicklung im Wandel legt den Fokus auf die kommunalen Handlungsebenen. Themen wie Innenentwicklung, Verdichtung oder Umnutzung, werden ebenso aufgegriffen, wie der Umgang mit Diversity. Erlernt werden zudem die Grundlagen und Methoden von partizipativen und kooperativen Prozessen in der Stadt-, Quartier- und Gemeindeentwicklung.
Programmstart: 14. Januar 2025
Anmeldung: Hier anmelden
Literatur:
Stade, Peter (2019). Partizipation, in Willener & Friz (Hrsg.), Integrale Projektmethodik (S. 50-67). Luzern: interact
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