Die Marke 4.0: Analoger Anstand für die digitale Performanz

Die Marke 4.0: Analoger Anstand für die digitale Performanz

Während es im ersten Teil von «Die Marke 4.0» generell um die Herausforderungen für die Markenführung im Digitalzeitalter ging, d.h. die erfolgreiche Überführung des analog aufgebauten Marken-Vertrauens ins Web, steht jetzt die direkte Kommunikation der Marke mit ihrer Kundschaft und der Allgemeinheit im Fokus: Was läuft im digitalen «persönlichen» Austausch anders – oder gerade nicht? Welche sozialen Mechanismen gilt es zu beachten?

Die «Digitale Revolution» als Massenphänomen tritt um die Jahrtausendwende auf. Neue Marken entstehen, die aus heutiger Sicht die ganze Wucht der Entwicklung exemplarisch vorführen: Google wird am 4. September 1998, Wikipedia am 15. Januar 2001 gegründet, der ipod von Apple kommt 2004 auf den Markt. Allein in der frühen Aufbruchphase der Digitalisierung von 2000 bis 2002 wurden mehr Daten produziert als in der gesamten Menschheitsgeschichte bis dahin (BITKOM 2012, S. 12). Heute kommen jeden Tag 2,5 Quintillionen Bytes Daten hinzu – das entspricht der 12,5-fachen Datenmenge aller bisher gedruckten Bücher.

Quelle: Bitkom 2012

2015 wurden bei Youtube pro Minute 400 Stunden Videomaterial hochgeladen, d.h. um alle Filme zu sehen, die in einer Minute neu hinzukommen, bräuchte ein Mensch 17 Tage – und eine gute Betreuung danach. So viel Meinung, Kreativität, Selbstdarstellungsdrang und Inhalt (hoffentlich) gab es nie zuvor.

Durchschnittlich schaut jeder Mensch alle 10 Minuten auf sein «Digital Device» – insgesamt 150 mal am Tag. Zunehmende Unfälle im Auto- und Fußgängerverkehr zeugen von den Folgen der Fixierung auf den Smartphone-Bildschirm: Dass ein 30-jähriger Mann beim Nachrichten tippen in eine frisch betonierte Fläche läuft und von Sanitätern herausgezogen werden muss, ist noch die witzige Variante. Inzwischen gibt es bereits Todesfälle.

Marke und digitales Marketing

Bei den Antworten auf die Frage nach den Folgen der Digitalisierung für die Marke herrscht weitgehende Übereinstimmung: Das analoge Markenkonzept bzw. die «integrierte Kommunikation» sei für hochgradig individualisierte, zielgruppenspezifische digitale Kanäle nicht weiter einsetzbar: Das klassische «Hineindrücken» universeller Markeninhalte mache keinen Sinn mehr. Denn das Internet gäbe im Gegensatz zu klassischen Werbekanälen den Usern die Möglichkeit, ihre Inhalte individuell zusammenzustellen. Gerade diese Tatsache führe dazu, dass Menschen sich nur sehr schwer von ihrem Smartphone lösen.

Dr. Arnd Zschiesche unterrichtet am Institut für Kommunikation und Marketing IKM im CAS Brand Management

So können User überall und jederzeit auf Inhalte zugreifen, die sie interessieren. In der Folge sind nicht nur Markenbeziehungen durch die Digitalisierung permanent bedroht. Denn die Möglichkeit, dass es immer noch etwas Neues, Spannenderes, Relevanteres in der Vielfältigkeit des digitalen Universums gibt, bedingt die « Macht», die das Smartphone auf unser Verhalten ausübt. Der direkte «menschliche Kontakt» scheint gegen Netzangebote keine Chance zu haben, wenn man beobachtet, dass es selbst bei einem gemütlichen Beisammensein im Restaurant nicht mehr unüblich ist, dass alle auf ihr Handy starren (und später ihre Scampi fotografieren, um sie auf « Insta» einzustellen).

Marken werden immer von innen zerstört – auch in der digitalen Welt

Aus Sicht einer langfristig orientierten bzw. seriösen Markenführung sind solche Annahmen kritisch zu bewerten: Ab dem Moment, von dem an eine Marke sich bemüht, für jeden einzelnen Menschen ein maßgeschneidertes Angebot parat zu halten, d.h. ihre Senderfunktion aufgibt, verliert sie ihren Existenzgrund. Eine Tendenz, die im Marketing schon lange existierte, jetzt aber dank umfassenderer Datenverarbeitungs-Möglichkeiten auf ein neues Niveau gehoben wird. Eine Situation, in der sich viele Marken in ihrem Portfolio stark angleichen und somit ihre Aufgabe, Orientierung zu geben, konterkarieren: Weil das Unternehmen alles für alle anbieten möchte, ist Austauschbarkeit die Folge. Es ist heute eine normale Situation, dass gestandene Markenverantwortliche erklären, dass man sich von der direkten Konkurrenz auf der Leistungsebene nicht mehr unterscheide und daher umfassende « Emotionalwelten» aufbauen müsse. Eine Bankrottansage: Jede Marke ist Marke geworden, weil sie einen bestimmten (neuen) Impuls in einen Markt gesendet hat. Es ist ein Treppenwitz, dass gerade große Marken, die einst große Impulse gesetzt haben, jetzt dank ihrer meist umfassenden Marktforschungstätigkeiten, die eigene Senderfunktion aufgeben und – mit stolzer Ansage – zum demütigen Empfänger und Analytiker von umfassenden Datensätzen mutieren. Nach den Interpretationen der Daten wird anschließend die Markenstrategie ausgerichtet. So wird die Marke zum Opfer der Digitalisierung.

Marken und Kundschaft kommunizieren digital auf Augenhöhe

Richtig ist, dass die Digitalisierung die «emotionale Anreicherung» von Marken massiv verändert hat, denn das Machtgefüge zwischen Firma und Kunde hat sich verschoben: Durch die Möglichkeiten des Internets kann sich jeder Mensch nicht nur über ein Unternehmen informieren, er hat ebenso die Möglichkeit, seine persönlichen Meinungen und Erfahrungen mit diesem zu äussern und zu verbreiten – in Echtzeit.

Die klassische Kommunikationstheorie geht in Bezug auf Marke von einem Sender aus, der seine Botschaft gezielt verbreitet bzw. seine Botschaft in den Markt oder die Öffentlichkeit hineinpresst. Je höher der (finanzielle) Einsatz, desto stärker die Rezeption beim Publikum. Klassische Medien wie TV, Radio oder Print haben die Aufgabe, die (Marken-)Botschaften in die Öffentlichkeit zu tragen, die bei einer begrenzten Anzahl von Kanälen (d.h. Fernsehsendern oder Printmedien) kaum Wahlmöglichkeiten haben. Bei drei Fernsehkanälen war die Auswahl relativ eingeschränkt, deswegen kennen frühere Jahrgänge so viele Werbespots aus den 1980er Jahren: jeder Spot war ein mediales Ereignis, dem man nur bedingt entgehen konnte. Daraus folgte: « Werbung wirkt», niemand konnte ihr entfliehen. Diese monomedialen Wirkgarantien sind abgelöst. Nunmehr bietet das Internet ein Forum, in dem Menschen die Angebote selbst auswählen und – sofern gewollt – vertiefen können. Hinsichtlich der Marke ist das Netz eine Kommunikationsplattform und keine Informations-Einbahnstraße. Die Kommunikationsströme haben sich demokratisiert: Statt «Top-down» kommt es zum « All-in». Alles wird bewertet – teilweise rein emotional und ohne Bewertungsgrundlage. Eine Gefahr sicherlich, aber gleichzeitig eine Chance, weil wirklich gute Leistungen eine Chance bekommen, sich auf Dauer durchzusetzen.

Bei allen Schwierigkeiten und Widerlichkeiten, die das Netz ermöglicht (Shit-Storm etc.), hat die Digitalisierung auch zu einem deutlich erhöhten Transparenzzwang für Organisationen geführt, weil es riskanter wird zu täuschen. Die Meldung von einem Feuer aufgrund mangelhafter Brandschutzmaßnahmen in einer Zulieferproduktionsstätte in Bangladesch ist innerhalb von Minuten weltweit in den Medien und kann das verantwortliche Unternehmen z.B. in Europa erheblich schädigen.

Marken müssen sich in der digitalen Welt begründeten wie unbegründeten Meinungen stellen, das zwingt sie zu einem transparenteren Umgang mit Öffentlichkeit. Und es beschleunigt viele positive Prozesse, z.B. wenn sich ein gesellschaftlicher Wandel in Richtung Ökologie durchsetzt, wird es schwierig für Unternehmen, sich den daraus resultierenden Ansprüchen zu entziehen. Die Digitalisierung erzwingt daher teilweise einen gesteigerten Anspruch an die Glaubwürdigkeit einer Marke. Auch wenn z.B. ein Hotel etliche bezahlte positive Fake-Meinungen über sich bei Bewertungsportalen einstellen kann: Langfristig wird es allein durch Vielzahl und Einfachheit der Bewertungsmöglichkeiten schwierig, die windige Bruchbude als Luxusresort darzustellen. Gäste oder Kunden kommentieren unkontrolliert ihre Erfahrungen in den sozialen Kanälen: Die Markenbotschaften müssen «realer» sein, da Berichte über Abweichungen sofort die Öffentlichkeit erreichen. Fazit: Die größte Herausforderung der digitalen Markenführung bleibt eine analoge, oder: Anstand zahlt sich aus.

Aktueller Buchtitel von Arnd Zschiesche und Oliver Errichiello: Marke statt Meinung. Die Gesetze der Markenführung in 50 Antworten (GABAL).

Marke statt Meinung

Kommentare

0 Kommentare

Kommentar verfassen

Danke für Ihren Kommentar, wir prüfen dies gerne.