Sozialmanagement und Sozialpolitik,
Angesichts der aktuellen Migrationsdebatten könnte schnell vergessen gehen, dass Flucht und Migration globale Themen sind. Somit finden Geflüchtete nicht nur in Europa und Nordamerika Zuflucht, sondern millionenfach auch im globalen Süden. Eine neue Swissuniversities-Studie zeigt, dass daraus nicht nur Herausforderungen entstehen, sondern auch viele Chancen.
Die Zahl der Menschen, die weltweit vor Krieg, Konflikten und Verfolgung fliehen müssen, war noch nie so hoch wie heute. Laut dem aktuellen Mid Year Trends-Report vom UNHCR waren im Juni 2024 weltweit 122,6 Millionen Menschen auf der Flucht – alle dringend auf Aufnahme an einem sicheren Ort angewiesen.
Gülcan Akkaya, Migrationsexpertin an der Hochschule Luzern, hat sich in der von Swissuniversities unterstützten interdisziplinären Forschungsstudie «Welcoming Neighbourhoods» mit der Situation in Äthiopien befasst. Äthiopien zählt laut UNHCR zu den Ländern Afrikas, die am meisten Flüchtlinge aufgenommen haben. In diesem Rahmen entstand eine Kooperation mit zwei Forschenden der Addis Abeba University und weiteren Fachpersonen zum Thema Migration, mit deren Hilfe umfangreiches quantitatives Datenmaterial ausgewertet und zahlreiche Interviews mit eritreischen, somalischen und syrischen Geflüchteten geführt wurden. Die Fallstudien bilden auch das Kernstück der Publikation Economic Innovation of Transnational Migrants and Refugees in Addis Ababa. Daraus ist eine Studie entstanden, die sich zum einen makroökonomische Zusammenhänge mit persönlichen Lebenserfahrungen verknüpft, zum anderen durch den Blick auf die südliche Hemisphäre einen Perspektivwechsel zum Thema Migration ermöglicht.
Äthiopien: Migrationsdrehscheibe für Ostafrika
Äthiopien liegt am Horn von Afrika und gilt aufgrund der Lage, Bevölkerungsgrösse und wirtschaftlichen Potenzials als eines der wichtigsten Länder in der Region. Auch wenn die humanitäre Lage im Land, wie in diesem ganzen Teil Afrikas, von Jahr zu Jahr dramatischer wird, hat es sich zu einem wichtigen Zufluchtsland entwickelt. Ende Juni 2024 lebten laut UNHCR mehr als eine Millionen Geflüchtete im Land, wobei der Grossteil aus dem Südsudan, Somalia und Eritrea stammt. Dazu kommen Millionen von Binnenvertriebenen aus Äthiopien selbst.
Während die meisten Betroffenen in Camps im ganzen Land untergebracht sind, leben rund 70’000 in der Hauptstadt Addis Abeba. Auf diese Stadt, die sich zu einer zentralen Migrationsdrehscheibe für Ostafrika entwickelt hat, konzentriert sich die Publikation. Die Studie bietet viele interessante Erkenntnisse, insbesondere für den Diskurs über Chancen und Herausforderungen von Migration.
Städte als Orte der Hoffnung und Innovation
Das erste, wenn auch nicht endgültige, Ziel der meisten Befragten war Addis Abeba. Sobald sie die Camps verlassen konnten, zog es sie in die Stadt, wo grundsätzlich etwas bessere Möglichkeiten und Rahmenbedingungen bestanden als anderswo. Neben einer besseren Basisinfrastruktur waren etwa auch bereits bestehende Flüchtlingsgemeinschaften vor Vorteil, die Neuankömmlingen als erste Anlaufstelle dienten. Solche Netzwerke bildeten ein wichtiges soziales Kapital, auch wenn sich die Unterstützung, zumindest in den untersuchten Fällen, nicht immer an alle richtete, sondern eher an die eigene Gemeinschaft.
Informeller Arbeitsmarkt als einzige Überlebenschance
Aber auch in der Stadt war die Ausgangslage mehr als schwierig. Viele begannen nach der Flucht wieder bei Null, ausser sie hatten Glück, weil sie über eigenes Kapital verfügten oder zumindest vorübergehend von Angehörigen aus der Diaspora unterstützt wurden.
Laut Studie blieb der Zugang zum regulären Arbeitsmarkt den Geflüchteten verwehrt und öffentliche Hilfe war in einem Land, das zu den ärmsten der Welt zählt, nicht zu erwarten (Rang 173 von 186 im UN-Human Development Index). Um zu überleben, blieben somit nur Tätigkeiten im informellen Sektor. Mit viel unternehmerischem Gespür und einem hohen Mass an Motivation und Resilienz gelang es vielen Befragten aber, eine innovative Nische zu finden und kleine Businesses aufzubauen. Viele waren im Strassenhandel, in Cafés, Friseursalons, Minimärkten, Schneidereien oder Kosmetikgeschäften tätig oder boten Handwerks-, Reinigungs- oder Taxidienste an. Dabei wurde deutlich, welche Innovationskraft erforderlich war, um in einem prekären Umfeld zu bestehen und überdies rechtliche, politische und wirtschaftliche Hindernisse zu überwinden.
Potenzial, die Wirtschaft voranzutreiben
Wie die Studie zeigte: Entgegen allgemeiner Vorurteile fielen die Geflüchteten der Aufnahmegesellschaft somit nicht zur Last. Ganz im Gegenteil: sie generierten Mehrwert. Sie konnten teilweise sogar Firmen aufbauen und neue Arbeitsplätze schaffen, wovon oft wiederum andere Migrant:innen profitierten. Dies gelang ihnen insbesondere dank ihrer hohen Leistungsfähigkeit und ihrer Bereitschaft, grosse Entbehrungen zu ertragen. Findigkeit, Kreativität und eine hohe Resilienz zeichneten sie aus. Ausgestattet mit persönlichen, sozialen und manchmal auch finanziellen Ressourcen, die den Start erleichtern, trugen Geflüchtete zur wirtschaftlichen Entwicklung bei und sicherten sich eine Existenz.
Abbau von Restriktionen lohnt sich
Wie das Flüchtlingshilfswerk UNHCR schreibt, hat die Regierung Äthiopiens in den letzten Jahren einige Gesetze geändert, um die Integration von Geflüchteten zu erleichtern. Sie haben das Recht, Asyl zu beantragen, das Recht auf Arbeit und haben Zugang zu den gleichen Dienstleistungen wie die Aufnahmegesellschaft. Das bestätigt auch die zentralen Empfehlungen der Autor:innen. Diese gingen auch dahin, die rechtlichen und administrativen Hürden zu reduzieren, den Zugang zum formellen oder informellen Arbeitsmarkt zu erleichtern, eine medizinische Grundversorgung auch für Geflüchtete zu ermöglichen und Diskriminierung zu bekämpfen. Denn dies konnte die Studie belegen: Eine Politik, die das Potenzial der Geflüchteten fördert, trägt nicht nur zu deren Selbstständigkeit bei, sondern gleichzeitig auch zur wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes.
Bild: Ayhoy, APS
Text: Anette Eldevik
Veröffentlicht am: 16. Januar 2025
Zur Studie
Für die Studie Economic Innovation of Transnational Migrants and Refugees in Addis Ababa wurden nationale Arbeitsmarktstatistiken und Daten des Addis Abeba Investment Bureau untersucht, dazu Primärdaten aus eigenen Flüchtlingsbefragungen (Interviews). Diese Fallstudien von somalischen, eritreischen und syrischen Geflüchteten bilden auch Kernstück der Studie. Die Studie kann hier bezogen werden.
Das Buch entstand im Rahmen des interdisziplinären Forschungsprojekts «Welcoming Neighbourhoods: Sustainable Migration in North, East and West African (WelCIT)» der Universität Genf, der Fachhochschule Genf, der Fachhochschule Südschweiz sowie der Hochschule Luzern sowie der Universitäten in Fez, Abidjan, Dakar und Addis Abeba. Darin wurde die Dynamik von Inklusion und Exklusion von Migrierenden im urbanen Kontext untersucht und ihren Beitrag zu sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Innovation.
Prof. Dr. Gülcan Akkaya ist Dozentin und Projektleiterin am Institut für Soziokulturelle Entwicklung und seit 2018 auch Lehrbeauftragte im Masterstudiengang «Soziale Arbeit und Menschenrechte» an der Alice Salomon Hochschule in Berlin. Die Sozialarbeiterin und promovierte Politikwissenschaftlerin war unter anderem von 2008 bis 2019 Vizepräsidentin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR). Zu ihren Schwerpunkten zählen: Grund- und Menschenrechte, Migration, Rassismus.
Dr. Chalachew Getahun Desta ist Professor am Center for Population Studies der Addis Ababa University.
Dr. Samuel Tefera Alemu ist Assitenzprofessor am Center for African and Asian Studies der Addis Ababa University.
Lorenzo Fontana ist ein italienischer Architekt, wohnhaft in Äthiopien und an verschiedenen Forschungs- und Entwicklungshilfeorganisationen beteiligt.
Prof. Dr. Walter Schmid ist Rechtsanwalt und war Direktor der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit, sowie Präsident der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe. Zu seinen Schwerpunkten zählen: Sozialrecht und Sozialpolitik, Migration, Integration und Entwicklungspolitik. Management von Verwaltungen und Nichtstaatlichen Organisationen und Bildungsmanagement
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