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Urteilsfähigkeit 2.0: Selbstbestimmung trotz Demenz

Urteilsfähigkeit 2.0: Selbstbestimmung trotz Demenz

Was bedeutet Urteilsfähigkeit im Zeitalter der unterstützten Entscheidungsfindung – insbesondere für Menschen mit Demenz? Die Fachpersonen Daniel Rosch, Charlotte Wetterauer und Manuel Trachsel zeigen in ihrem neuen Buch «Urteilsfähigkeit 2.0» ein praxisnahes Modell, das die Selbstbestimmung trotz kognitiver Einschränkungen stärken soll – ganz im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention.

Eine interdisziplinäre Autor:innenschaft bestehend aus Medizin, Rechtswissenschaften, Sozialer Arbeit, Psychologie und Medizinethik hat sich mit der Urteilsfähigkeit auseinandergesetzt. Was ist daraus geworden?

Daniel Rosch, Charlotte Wetterauer und Manuel Trachsel (DR CW MT): Daraus ist ein Buch entstanden mit dem Titel «Urteilsfähigkeit 2.0». Wir haben uns die Frage gestellt, wie die Urteilsfähigkeit zu verstehen bzw. auch weiterzuentwickeln ist, damit Menschen mit Demenz auch mit Unterstützung möglichst lange urteilsfähig bleiben können. Mit anderen Worten ging es darum, die unterstützte Entscheidungsfindung, die von der UN-Behindertenrechtskonvention gefordert wird, mit dem rechtlichen Konzept der Urteilsfähigkeit in Verbindung zu bringen.

Interessant. Was sind die Ergebnisse?

DR CW MT: Zunächst darf man Urteilsfähigkeit nicht in einem statischen Sinne verstehen, indem völlig abstrakt verschiedene Kompetenzen beurteilt werden. Wenn unterstützte Entscheidungsfindung möglich sein soll, dann muss folglich auch eine Urteilsbefähigung möglich sein. Diese darf wiederum nicht grenzenlos sein, damit das Konzept der Urteilsfähigkeit nicht aufgelöst wird.

Das hört sich nach einem Spannungsverhältnis an. Wie haben Sie das gelöst?

DR CW MT: Wir haben uns zunächst vertieft mit der Urteilsfähigkeit aus einer rechtlichen Perspektive auseinandergesetzt und sie in den Kontext des Willens gesetzt. Damit haben wir bereits Rechtsfortbildung betrieben, indem auch bei Urteilsunfähigkeit der Wille im Zentrum steht und nicht mehr objektive Interessen. In einem zweiten Schritt haben wir die unterstützte Entscheidungsfindung beleuchtet und nach Verknüpfungsmöglichkeiten des rechtlichen Konzepts von Urteilsfähigkeit mit der unterstützten Entscheidungsfindung, insbesondere bei Demenz, gesucht. Daraus haben wir ein Modell entwickelt, das sogenannte «Support-U».

Wie ist das Modell «Support-U» gedacht?

DR CW MT: «Support-U» zielt darauf ab, dass sowohl die betroffenen als auch die beurteilenden Personen mit dem Modell Unterstützung finden sollen. Es ist eigentlich ein Kommunikationsmodell aus der Sprachwissenschaft und dient dazu herauszufiltern, inwiefern eine Person noch einen Willen bilden und diesen umsetzen kann. Gleichzeitig werden mit dem Modell Unterstützungspotenziale eruiert und diesbezügliche Hilfen wiederum in den Prozess eingebracht. So kann herausgearbeitet werden, inwieweit eine Person noch einen eigenen Willen, gegebenenfalls eben mit Unterstützung, entwickeln kann, aber auch, wo sich diesbezüglich die Grenze befindet.

Das hört sich interessant an. Wie geht es nun weiter?

DR CW MT: «Urteilsfähigkeit 2.0» ist der erste Teil eines umfassenden Forschungsprojektes mit dem Namen «U-Decide». «U-Decide» untersucht Möglichkeiten zur Optimierung der Selbstbestimmung von Patient:innen unter besonderer Berücksichtigung von Personen mit Demenzerkrankung und unter Miteinbezug von Angehörigen, Betroffenen und Gesundheitsfachpersonen. Daraus werden Best-Practice-Vorschläge entwickelt.

Wann sind die Ergebnisse zu erwarten?

DR CW MT: Wir gehen davon aus, dass wir 2026 wieder mit konkreten Ergebnissen an die Öffentlichkeit treten können.

Dann sind wir gespannt. Besten Dank für das Gespräch.

Das Gespräch wurde von Christa Escher, Stämpfli Verlag, schriftlich geführt.
Veröffentlicht am: 20. Juni 2025

Buch Urteilsfähigkeit 2.0
Mehr zum neuen Buch erfahren Sie sich hier.

Forschungsprojekt «U-Decide»
Das Forschungsprojekt «U-Decide», das dem Buch und dem Modell «Support U» zugrunde liegt, wird u. a. von der Felix Platter-Stiftung und der HSLU Foundation finanziert. Es wird an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit  und am Universitätsspital Basel – Abteilung Klinische Ethik durchgeführt. Mehr dazu findet sich hier.

Interdisziplinäres Forschungsteam

Dr. iur. Charlotte Wetterauer ist Juristin und stellvertretende Leiterin der Abteilung Klinische Ethik des Universitätsspitals Basel, der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel, der Universitären Altersmedizin Felix Platter und des Universitäts-Kinderspitals beider Basel. Sie ist zudem Lehrbeauftragte an der Medizinischen Fakultät der Universität Basel.

Prof. Dr. med. Dr. phil. Manuel Trachsel ist Titularprofessor für Bio- und Medizinethik an der Medizinischen Fakultät der Universität Basel und Leiter der Abteilung Klinische Ethik des Universitätsspitals Basel, der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel, der Universitären Altersmedizin Felix Platter und des Universitäts-Kinderspitals beider Basel.
 
Prof. (FH) Dr. iur. Daniel Rosch ist Jurist, Sozialarbeiter, Nonprofit-Manager sowie systemischer Berater und Familien-, Kinder- und Jugendtherapeut (DGSR/hsi). Er ist Professor an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit.

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