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Häusliche Gewalt: «Starre Rollenbilder erhöhen das Risiko»

Häusliche Gewalt: «Starre Rollenbilder erhöhen das Risiko»

Häusliche Gewalt ist bei weitem kein Randphänomen, sondern betrifft Menschen in allen Lebenslagen. Anlässlich der Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» sprechen wir mit HSLU-Professorin Paula Krüger darüber, warum die aktuelle gesellschaftliche Stimmung das Risiko weiter erhöht – und weshalb das soziale Umfeld für die Prävention entscheidend ist.

Frau Krüger, weshalb ist es wichtig, gerade jetzt über Gewalt an Frauen und vulnerablen Gruppen zu sprechen?

Gewalt ist immer ein wichtiges Thema, aber das aktuelle gesellschaftliche Klima verschärft die Situation zusätzlich. Wir sehen international eine Stärkung rechter und antifeministischer Positionen, die erreichte Fortschritte in der Gleichstellung zurückdrehen wollen. Das ist ein Risikofaktor: Starre Geschlechterrollen erhöhen das Gewaltpotenzial. Deshalb ist es im Moment besonders wichtig, hinzuschauen.

Der Bund weist auf einen Höchststand an schweren Gewaltdelikten im häuslichen Bereich hin. Wie ordnen Sie diese Entwicklung ein?

Die Daten des Bundesamts für Statistik zeigen, dass Frauen bei Tötungsdelikten im Partnerschaftskontext überproportional betroffen sind. Diese Fälle sind aber auch nur die Spitze des Eisbergs und belegen, dass Prävention vorher nicht ausreichend gegriffen hat.

«Wenn das Umfeld hinschaut oder nachfragt, realisieren Betroffene oft erst, dass ihre Situation nicht normal ist. Das kann ein Wendepunkt sein.» Paula Krüger

In Ihrer Forschung betonen Sie die Rolle des sozialen Umfelds. Warum ist dieses so entscheidend?

Weil wir ein riesiges Präventionspotenzial verschenken, wenn wir das Umfeld nicht einbeziehen. Die meisten Kampagnen richten sich an Betroffene – das ist wichtig, aber nicht genug. Gewalt ist ein gesellschaftliches Problem. Menschen im Umfeld wissen oft nicht, wie sie Anzeichen einordnen sollen oder an wen sie sich wenden können. Und Betroffene haben oft gute Gründe, nicht sofort darüber zu sprechen – etwa aus Angst, Scham oder der Sorge, dass ihnen nicht geglaubt wird. Umso wichtiger ist es, dass Nachbarinnen, Freunde oder Kolleginnen hinschauen, nachfragen und wissen, wo es niederschwellige, auch anonyme Beratungsangebote gibt. Das Pilotprojekt «Halt Gewalt» in Basel-Stadt zeigt exemplarisch, wie diese Einbindung des Umfelds in der Praxis aussehen kann.

Pilotprojekt «Halt Gewalt»
«Halt Gewalt» ist ein Pilotprojekt des Kantons Basel-Stadt, das die Prävention häuslicher Gewalt direkt im Quartier stärkt. Es wurde finanziell vom Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann unterstützt. «Eine Besonderheit ist, dass Verwaltung und Zivilgesellschaft zusammenarbeiten, um niederschwellige Anlaufstellen zu schaffen», sagt Paula Krüger. Im Zentrum steht das soziale Umfeld: Menschen in der Nachbarschaft oder im Freundeskreis erleben oft Hinweise auf mögliche Gewalt, wissen aber nicht, wie sie reagieren sollen.

Die HSLU evaluiert das Projekt wissenschaftlich. Erste Erkenntnisse zeigen: Wissen über Dynamiken häuslicher Gewalt und über Beratungsangebote ist entscheidend, damit Menschen sicher handeln können. Gleichzeitig kann Aufmerksamkeit aus dem Umfeld für Betroffene ein wichtiger Moment sein.

Ihre Forschung zeigt, dass schädliche Stereotype die Prävention behindern. Welche Bilder sind besonders problematisch?

Ein weit verbreitetes Stereotyp ist, dass häusliche Gewalt vor allem in sogenannten Problemquartieren vorkommt. Das ist falsch und gefährlich. Dadurch wird in anderen Gruppen gar nicht erst hingeschaut. Menschen mit Behinderung beispielsweise gelten oft nicht als potenziell betroffen; das führt dazu, dass ihnen im Ernstfall weniger geglaubt wird. Daher ist übrigens die Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen», für die wir uns am Departement auch stark machen, in diesem Jahr besonders diesen Menschen gewidmet.

Auch Betroffene selbst internalisieren Stereotype. Viele Menschen halten es lange nicht für möglich, dass sie von häuslicher Gewalt betroffen sein könnten – gerade, wenn sie sozial gut eingebettet, unabhängig oder beruflich erfolgreich sind. Gewalt betrifft jedoch alle Schichten, auch privilegierte.

Wo sehen Sie den grössten Handlungsbedarf, damit Prävention und Unterstützung wirksamer werden?

Die Hilfsorganisationen leisten enorm wertvolle Arbeit, aber sie brauchen Ressourcen und vor allem Planungssicherheit. Viele Angebote müssen heute inklusiver und zugänglicher werden, etwa für Menschen mit Behinderung oder ältere Betroffene. Das wollen die Organisationen auch, aber dafür braucht es eine stabile Finanzierung. Gleichzeitig müssen wir das Umfeld befähigen: Woran erkenne ich Gewalt? Was kann ich tun, ohne mich selbst zu gefährden? Das reicht vom diskreten Ansprechen über das Weitergeben von Notfallkarten bis hin zum Kontakt mit Fachstellen. Die Polizei sagt zu Recht: lieber einmal zu viel reagieren als einmal zu wenig.

Text: Ismail Osman
Bild: Getty Images
Veröffentlicht am: 5. Dezember 2025

16 Tage gegen Gewalt an Frauen

Vom 25. November bis 10. Dezember finden die nationalen Aktionstage «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» statt. Während dieses Zeitraums werden schweizweit Veranstaltungen wie Podien, Workshops, Selbstverteidigungskurse oder Strassenaktionen durchgeführt, um geschlechtsspezifische Gewalt sichtbar zu machen. Die vom Departement Soziale Arbeit unterstützte Kampagne wird von der Organisation Frieda koordiniert und richtet sich an alle – mit dem Ziel: Gewalt zu verhindern und Betroffenen Unterstützung zu bieten.

Paula Krüger

Prof. Dr. Paula Krüger

Paula Krüger ist Professorin am Institut für Sozialarbeit und Recht an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit. Seit 2023 ist sie unter anderem Verantwortliche des Kompetenzzentrums Kindes- und Erwachsenenschutz.

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