Soziale Sicherheit,

Weiterbildung

Wie fair ist unser Sozialdienst?

Wie fair ist unser Sozialdienst?

In der Schweiz sollen Mitarbeitende in Sozialdiensten Chancengerechtigkeit gewährleisten. In der Masterarbeit von Rahel Iseli zeigt sich, dass dies in der Praxis nicht immer umgesetzt wird. Es ist wichtig, dass Mitarbeitende den Unterschied zwischen Gleichbehandlung und Chancengerechtigkeit kennen.

Der Text wurde von Rahel Iseli in Zusammenarbeit mit Lucia Lanfranconi verfasst.

In der Schweiz sollen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter für Chancengerechtigkeit (equity) sorgen. Das steht im Berufskodex Soziale Arbeit Schweiz. Chancengerechtigkeit bedeutet, dass Menschen je nach Bedarf unterschiedliche Unterstützung erhalten, damit alle die gleichen Chancen haben. Denn alle Menschen haben unterschiedliche Fähigkeiten (etwas Sprach- oder IT-Kenntnisse), genetischen Bedingungen und Ressourcen zur Verfügung und brauchen deshalb unterschiedliche Unterstützung. Eine «sture» Gleichbehandlung (equality) aller Klient:innen kann zu sozialer Ungerechtigkeit führen, etwa dann wenn Klient:innen ungleiche Zugangsbarrieren zur Sozialhilfe haben (Lanfranconi et al. 2020; 2022).

Die folgende Illustration macht den Unterschied von Gleichbehandlung (equality) und Chancengerechtigkeit (equity) deutlich.

Cartoon-Gleichbehandlung-equality-und-Chancengerechtigkeit-equity
Equality versus Equity (Maguire, 2016)

Die Aktualität dieser Thematik wurde mir in meinen Praxisalltag als Sozialarbeiterin in einem Sozialdienst bewusst. Ich bemerkte, dass einige Klient:innen erst nach mehreren Wochen, andere bereits nach wenigen Tagen nach Abgabe des Sozialhilfeantrags, mit Sozialhilfe unterstützt wurden. Das hat mich nachdenklich gemacht: Bieten wir wirklich Chancengerechtigkeit? Zum Beispiel: Was machen wir für Menschen, die schlecht Deutsch sprechen oder Schwierigkeiten beim Ausfüllen der Anträge haben?

Meine Masterarbeit zur Chancengerechtigkeit

Zur Masterarbeit inspiriert hat mich ein Unterrichtstag bei Lucia Lanfranconi zu den Konzepten Gleichbehandlung und Chancengerechtigkeit und ihren empirischen Arbeiten in Sozialdiensten in Kalifornien. Meine Masterarbeit schrieb ich 2023 an der Hochschule Luzern. Dabei befasste ich mich mit folgenden Fragestellungen:

  • Findet während des Intake-Prozesses eine Gleichbehandlung oder Chancengerechtigkeit statt?
  • Welche Hilfestellungen werden den Klient:innen während des Intake-Prozesses gewährt?

Mittels Gruppeninterviews, durchgeführt mit zwei Intake Teams, wurden die Mitarbeitenden zu ihren Rechten und Pflichten, zum Leitbild und den Grundsätzen des Sozialdienstes befragt. Weiter wurden sie interviewt betreffend ihren Aufträgen, die sie während des Intake-Prozesses auszuführen haben, und zu Haltungen, welche vom Sozialdienst und von den Mitarbeitenden vertreten werden. Die Aussagen der Mitarbeitenden wurden zu den Grundrechten der Schweizerischen Bundesverfassung und zu den berufsethischen Grundsätzen und Handlungsprinzipien der Sozialen Arbeit in Bezug gesetzt. Theorien und Hypothesen aus Studien von Lanfranconi et al. (2020; 2022) wurden zur Erklärung von Verhaltensweisen der Mitarbeitenden beigezogen.

Ergebnisse der Masterarbeit

Die Interviews zeigten die Tendenz auf, dass der Sozialdienst als Arbeitgebender und Behörde die Chancengerechtigkeit nicht in allen Teilen fördert. Dies lag zum einen an den mangelnden Kenntnissen der Mitarbeitenden über das Gesetz und das Leitbild des Sozialdienstes. Andererseits wird im Auftrag an die Mitarbeitenden, auch eher ein passives Verhalten gefordert. Von den Klient:innen wird generell erwartet und gefordert, dass sie den Sozialhilfeantrag selbstständig bearbeiten, unabhängig ihrer Ressourcen und Fähigkeiten.

Positiv fiel auf, dass einzelne Mitarbeitende den Klient:innen bei sprachlichen, schriftlichen oder bei psychischen Schwierigkeiten Hilfestellungen anboten. Auch wurde auf die emotionale Verfassung und das «hilfsbedürftige» Verhalten der Klient:innen eingegangen, indem Unterstützung offeriert wurde. Demzufolge kann davon ausgegangen werden, dass in beiden Teams einzelne Mitarbeitende arbeiten, welche tendenziell eher Haltungen vertreten und leben, die dem Berufskodex der Sozialen Arbeit Schweiz und den Menschen- und Grundrechten entsprechen und sich dadurch für Chancengerechtigkeit einsetzen.

Mitarbeitende können die Leitbilder und Grundsätze eines Sozialdienstes nur dann umsetzen, wenn sie diese kennen und im Blick haben.

Empfehlungen für Leitungspersonen von Sozialdiensten

Meine Erkenntnisse zeigen: Die Leitung des Sozialdienstes muss sicherstellen, dass alle Mitarbeitenden die Gesetze und den Berufskodex kennen. Wenn die Grund- und Menschenrechte, Leitbilder und Grundsätze eines Sozialdienstes nicht bekannt und präsent sind, können diese von den Mitarbeitenden im Arbeitsalltag nicht umgesetzt werden. Den Mitarbeitenden muss der Unterschied zwischen Gleichbehandlung und Chancengerechtigkeit bewusst sein. Sie sollten sich mit diesen Themen beschäftigen und dadurch sensibilisiert werden und eine gemeinsame Haltung entwickeln.

Weiterbildungen oder Teamevents zum Thema werden ebenso empfohlen, wie das Einbinden dieser Themen in die Regelstrukturen, wie Meetings oder Supervision. Das Bild «Equity versus Equality» sollte an prominenter Stelle im Sozialdienst einen Platz finden, denn es stellt auf einfache und sehr eindrückliche Weise den Unterschied von Gleichbehandlung und Chancengerechtigkeit dar.

Von: Rahel Iseli in Zusammenarbeit mit Lucia Lanfranconi
Bild: Adobe Stock, Angus Maguire
Veröffentlicht: 10. August 2024

MAS Sozialarbeit und Recht: Fundiertes Wissen und praxisnahe Ansätze

Das MAS-Programm vermittelt differenzierte Kenntnisse der für die gesetzliche Sozialarbeit relevanten rechtlichen Rahmenbedingungen und Methoden und Konzepte, die in der Arbeit mit Pflichtklientinnen und -klienten erfolgreich angewendet werden können.

CAS-Module

Rahel Iseli HSLU

Rahel Iseli

Rahel Iseli ist Sozialarbeiterin und arbeitete von 2016 bis 2023 auf einem polyvalenten Sozialdienst. Ab 2024 hat sie sich selbständig gemacht und arbeitet auf Mandatsbasis. Von 2022 – 2023 schloss sie das Mastermodul des MAS Sozialarbeit und Recht der HSLU ab. In ihrer Masterarbeit zur Sozialen Gerechtigkeit im Intakte-Prozess wurde sie von Lucia Lanfranconi betreut.

Lucia Lanfranconie Profilbild

Prof. Dr. Lucia M. Lanfranconi

Lucia Lanfranconi war von 2015 bis 2024 Professorin für Sozial- und Gleichstellungspolitik an der HSLU. Seit 2023 ist sie Professorin für Diversity, Equity & Inclusion an der BFH Departement Wirtschaft und Chancengleichheitsdelegierte.

Sie hatte 2019 – 2020 ein vom SNF finanziertes Forschungsprojekt an der UC Berkeley «Social Equity in Social Assistance/Welfare-to-Work» durchgeführt, wo sie auf der Ebene der Sozialhilfe in Kalifornien, deren Umsetzung in lokalen Sozialdiensten und durch verschiedene Sozialarbeitende Mechanismen der Gleichbehandlung und Chancengerechtigkeit nachzeichnete.

CAS Soziale Sicherheit PLUS – Praxiskompetenzen vertiefen

Das neue CAS «Soziale Sicherheit PLUS» stärkt die Kompetenzen in der Abklärung und erfolgreichen Durchsetzung von Ansprüchen im System der sozialen Sicherheit. Der Fokus des Programms liegt auf der fallbezogenen Arbeit sowie aktuellen Rechtsentwicklungen. Anhand von praxisnahen Beispielen werden die Teilnehmenden befähigt, auch komplexe Ansprüche für ihre Klientinnen und Klienten zu erkennen und durchzusetzen.

Anmeldeschluss: 18. Oktober 2024

Programmstart: 18. November 2024

Mehr Informationen: Webseite CAS Soziale Sicherheit PLUS

Kommentare

0 Kommentare

Kommentar verfassen

Danke für Ihren Kommentar, wir prüfen dies gerne.