Behinderung und Lebensqualität,

Forschung

Gleiche Rechte und Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderungen ermöglichen

Gleiche Rechte und Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderungen ermöglichen

Dozentin und Projektleiterin Elisa Fiala spricht über den Stand der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in der Schweiz. Ein im Rahmen ihrer Studie «BRK Konkret» entwickelter Indikatorenraster könnte dazu beitragen, Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung zu mehr Selbstbestimmung zu verhelfen. Weiter erfährt man, warum diese Menschen ihre Rechte auch erleben können müssen, um diese bewerten zu können, und wie das realisiert werden kann.

2014 hat die Schweiz die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert und sich damit verpflichtet, die Selbstbestimmung und Wahlfreiheit von Personen mit Behinderungen zu fördern. Wie schneidet die Schweiz rund zehn Jahre nach der Ratifizierung ab?

Elisa Fiala: Ja, da haben wir relativ klare Rückmeldung bekommen. Im ersten Monitoring-Zyklus des UN-Behindertenrechtsausschusses wurden einige offene Felder entdeckt. Das gilt etwa für den Artikel 19 der Konvention «Unabhängige Lebensführung und Einbezug in die Gemeinschaft». Hier fehlt es auf nationaler und kantonaler Ebene etwa an einem umfassenden System, das individuelle Unterstützungen bereitstellt, damit Menschen ein unabhängiges Leben in der Gesellschaft leben können.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Nehmen wir den Bereich Wohnen. Hierzulande überwiegen im Behindertenbereich nach wie vor stationäre Angebote mit Heimen und Wohngruppen. Ambulante Modelle, die das selbständige Wohnen in der Gemeinschaft ermöglichen, sind noch nicht so ausgebaut.

Es gibt aber Bestrebungen, dies zu ändern. Der Kanton Zug nimmt hier eine Vorreiterrolle ein und im Kanton Zürich ist seit Anfang 2024 das Selbstbestimmungsgesetz in Kraft. Auch andere Kantone und Einrichtungen zeigen sich offen für Neuerungen. Aber – auch wenn die Bedürfnisse seit Jahren bestehen und sich die Menschen ihre Situation ja ganz sicher nicht aussuchen – es ist komplex, historisch gewachsene Rahmenbedingungen und Finanzierungssystematiken zu ändern.

Der Artikel 19 sei einer der weitreichendsten Bestimmungen der Konvention. Wie meinen Sie das?

Der Artikel regelt unter anderem das Wohnen. Das ist ein sehr umfassendes Thema, das stark ins Private hineinreicht und viel mit Lebensqualität zusammenhängt. Es geht dabei nicht nur um den Wohnort oder um die Wohnform, sondern eben auch darum, wie gestalte ich meinen Tagesablauf oder wie ernähre ich mich. Gerade das Essen spielt im Zusammenhang mit Selbstbestimmung übrigens immer eine grosse Rolle. Zu Lebensbereichen wie diesem gibt es viele verschiedene Haltungen – wie in der Gesamtbevölkerung auch.

Normative Rahmenbedingungen UN-BRK im Bereich Wohnen
(eigene Darstellung)

Gemäss Artikel 19 sollen Menschen mit Behinderungen auch Zugang zu gemeindenahen Unterstützungsdienste haben. Dies ist häufig nicht der Fall. Die persönliche Assistenz, die damit eingeschlossen ist, gibt es in der Schweiz seit 2012. Sie wird aber vielfach nicht beansprucht. Einfach, weil zu viele Hürden bestehen. Die Assistenznehmenden müssen beispielsweise als Arbeitgebende fungieren und alles selbst managen, inklusive Sozialversicherungsabgaben, Dienstpläne usw. Es wird vorausgesetzt, dass man in der Lage ist, ein kleines Unternehmen zu leiten.

«Es wird vorausgesetzt, dass die Assistenznehmenden in der Lage sind, ein kleines Unternehmen zu leiten.»

Damit wären die meisten Leute wohl überfordert. Inwiefern sind sich Menschen mit einer Beeinträchtigung ihrer Rechte bewusst?

Momentan oftmals nicht. Das hat viel damit zu tun, wie man aufwächst und sozialisiert worden ist. Entsprechend kann die Fähigkeit, seine Rechte wahrzunehmen, Entscheidungen zu fällen oder sich im Alltag als selbstwirksam zu erleben, stärker oder weniger stark ausgeprägt sein.

In Ihrer Studie «BRK konkret» wird ausgeführt, warum Rechte erlebbar sein sollen. Wie meinen Sie das?

Beim Wohnen wäre die Idee, Wohnformen testen zu können, um zu sehen, was am Ende funktioniert. Schafft die Person es, allein zu wohnen oder isoliert sie sich? Ist eine WG das Richtige oder doch lieber eine stationäre Umgebung? Im Kanton Luzern begleitet beispielsweise die Organisation luniq Menschen dabei, selbstbestimmt in einer selbstgewählten Wohnform zu leben.

Solche Versuche sind wichtig. Dies auch mit dem Risiko, dass es mal nicht gelingen könnte und man eine andere Lösung suchen muss. Aber auch dafür sollte Platz sein.

Müsste grundsätzlich mehr in barrierefreien Wohnraum investiert werden?

Studien zeigen, dass es nicht ausreichend barrierefreien und erschwinglichen Wohnraum gibt, besonders in Ballungszentren. Ebenso liess sich nachweisen, dass das hindernisfreie Bauen bei Neubauten praktisch immer wirtschaftlich zumutbar ist. Ein nachträglicher Umbau dagegen ist in der Regel vielfach teurer.

Man darf auch nicht vergessen, dass barrierefreie Gestaltung für viele Bevölkerungsgruppen sehr nützlich ist. Im Wohnungsbau wird der Bedarf allein schon daher steigen, weil die Gesellschaft immer älter wird. Und auch im ÖV profitieren viele von einer barrierefreien Infrastruktur, denken wir an Eltern mit Kinderwagen, Senior:innen und Reisende mit Koffern.

«Viele Bevölkerungsgruppen profitieren von Barrierefreiheit und inklusiven Strukturen.»

Um insbesondere Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung zu mehr Selbstbestimmung zu verhelfen, haben Sie einen Fragebogen entwickelt.

Ja, genau. Es ist ein Indikatorenraster auf Basis der UN-BRK, der anhand von konkreten Fragen zur Reflexion anregen soll. Auch wenn er noch weiterentwickelt werden müsste, ist es das Ziel, die komplexe Thematik auf ganz lebensnahe Weise herunterzubrechen. Die jetzige Fassung können vor allem auch Fachpersonen nutzen, wenn sie etwa neue Konzepte entwickeln oder die Lebensrealitäten von Personen erfassen.

Kann die Hochschule etwas dazu beitragen?

Ja, absolut. Die Personen, die wir zu Fachpersonen ausbilden, sind für die Befähigung der Menschen sehr relevant. Als Teil des Unterstützungssystems können sie viel ermöglichen oder eben auch verhindern. Eine reflexive Haltung ist daher wichtig, denn wir sehen, dass das selbstbestimmtere Leben die Person meistens im Positiven verändert. Alle Menschen können ihr Leben lang dazulernen. Auch Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung. Für Fachpersonen entstehen dazu auch neue Arbeitsfelder und neue Rollen.

«Alle Menschen können ihr Leben lang dazulernen. Auch Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung.»

Kann es sein, dass es mit der jüngeren Generation schneller geht?

Man spürt schon einen Unterschied, ob jemand in inklusiven bzw. integrativen Settings sozialisiert worden ist oder nicht. Die Rechte sind auch mittlerweile bekannter und politisch sichtbarer, wie etwa aktuell beispielsweise durch die Inklusionsinitiative. Aber es braucht, so sagen mir die Menschen, nun auch konkrete Umsetzungen. Nach vielen Jahren sind viele mittlerweile sensibilisierungsmüde. Daher sind nun alle Akteur:innen gefordert – die Institutionen, die Politik und die Gesellschaft als Ganzes – sich zu fragen: «Inwiefern können auch wir uns anpassen und diesen Paradigmenwechsel mitgestalten?»

Von: Anette Eldevik
Bild: Getty Images
Veröffentlicht am: 11. Oktober 2024

Infos zur Studie «BRK Konkret»

👉🏼 Alles zur Studie und zum Indikatorenraster ist hier zu erfahren.

👉🏼 Wie die Inklusion im Bereich Wohnen und Freizeit realisiert werden kann, wird auch an der Luzerner Behindertenrechtstagung am 14. November 2024 thematisiert. Die Tagung wird alle zwei Jahre von der HSLU durchgeführt. Dieses Jahr im Blickpunkt: der Sozialraum. Hier anmelden!

Elisa Fiala

Dr. Elisa Fiala

Die Dozentin und Projektleiterin ist am Institut Sozialpädagogik und Sozialpolitik der Hochschule Luzern tätig. Sie hat einen Bachelor of Arts in Sozialer Arbeit von der Dualen Hochschule Baden-Württemberg und einen Master of Human Rights von der Curtin Universität in Perth, Australien. Ihre Dissertation in Sozialpolitik verfasste sie an der Fakultät für Sozial- und Politikwissenschaften der Universität Lissabon zum Thema «Das Recht auf Arbeit gemäss der UN-Behindertenrechtskonvention».

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