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Kinder haben das Recht auf ein soziales Existenzminimum

Kinder haben das Recht auf ein soziales Existenzminimum

Gewährt die Schweiz allen Kindern und Jugendlichen, die in Armut leben, eine ausreichende soziale Existenzsicherung, die ihnen gemäss UNO-Kinderrechtskonvention und Bundesverfassung zusteht? Eine Studie, die sich mit der materiellen Situation von Kindern und Jugendlichen in der Sozialhilfe befasst, setzt hier einige Fragezeichen.

In der Schweiz sind 76’000 Kinder und Jugendliche von der ordentlichen Sozialhilfe abhängig. Dies ist ein Drittel aller Menschen, die von der Sozialhilfe unterstützt werden. Hinzu  kommt eine grosse Zahl von Kindern und Jugendlichen, die Leistungen der Asylsozialhilfe erhalten. Nun liegt eine neue Studie zur materiellen Situation dieser jungen Menschen vor, die im Auftrag der Sozialcharta für die Sozialhilfe Schweiz erarbeitet wurde. Sie geht der zentralen Frage nach, ob Gesetzgebung und Vollzug der sozialen Existenzsicherung von Kindern und Jugendlichen dem vorgegebenen Rahmen der Grund- und Menschenrechte entsprechen.

In diesem Kontext bedeutet «soziale Existenzsicherung», dass über die Grundbedürfnisse hinaus auch kinderspezifische Bedürfnisse zu erfüllen sind. Damit sind insbesondere die für die kindliche Entwicklung zentralen Bedürfnisse nach Bildung und sozialer Teilhabe gemeint.

Kinderrechte sind verbindlich

Die Berner Fachhochschule und die Hochschule Luzern erarbeiteten für das Projekt den grund- und menschenrechtlich definierten Rahmen. Er begründet, dass das durch Grund- und Menschenrechte garantierte Recht der Kinder auf einen angemessenen Lebensstandard nicht nur die elementarsten Bedürfnisse wie Nahrung, Obdach und Kleidung umfasst. Vielmehr gibt es auch ein Recht auf ein gesichertes soziales Existenzminimum, mit dem die Entwicklung und der Schutz der Kinder gewährleistet wird.

Dieser grundrechtliche Anspruch ergibt sich zunächst aus den Kernnormen der Bundesverfassung (BV): aus dem Schutz der Menschenwürde (Art. 7 BV) und der persönlichen Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV). Im Weiteren stehen den Kindern auch der Schutz ihrer Unversehrtheit und die Förderung ihrer Entwicklung zu (Art. 11 BV). Da diese Grundrechtsnormen Teil des Menschenrechtskorpus sind, gilt dies für alle Kinder – unabhängig von Herkunft und rechtlichem Status. Darüber hinaus postulieren verschiedene programmatische Normen ein soziales Existenzminimum für Kinder. Wesentliche Stichworte sind in diesem Zusammenhang die Chancengleichheit (Art. 2 Abs. 3 BV) und das Kindeswohl (Art. 11 BV).

Völkerrechtlich relevant sind zudem verschiedene Bestimmungen der UNO-Kinderrechtskonvention (KRK). Sie garantiert Kindern einen Lebensstandard, der ihre körperliche, geistige, seelische, sittliche und soziale Entwicklung angemessen berücksichtigt (Art. 27 KRK). Auch diese Rechte gelten uneingeschränkt für alle Kinder und Jugendlichen und schliessen eine Diskriminierung nach Status oder Herkunft aus (Art. 2 Abs. 1 KRK).

Die Bundesverfassung und internationale Abkommen wie die UNO-Kinderrechtskonvention setzen demnach der Ausgestaltung der Sozialhilfeleistungen einen Rahmen, der auch für die Kantone verbindlich ist. Kantonale Gesetzgeber sind daher verpflichtet, diese Grundwerte der Verfassung in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen zu lassen. Diese Werte, die sich u.a. aus der Menschenwürde ergeben, müssen beim Erlass von sozialhilferechtlichen Normen miteinfliessen.

Handlungsbedarf bei der Umsetzung

Wie der sozialwissenschaftliche Teil der Studie des Büros für arbeits- und sozialpolitische Studien (BASS) zeigt, ist heute keineswegs für alle Kinder in der Schweiz das Recht auf ein soziales Existenzminimum gewährleistet. Problematisch ist nicht zuletzt die Lage der jungen Menschen in der Asylsozialhilfe und in der Nothilfe. Die reduzierten Asylsozialhilfe-Ansätze erschweren oder verhindern die soziale und gesellschaftliche Teilhabe. Die Entwicklungschancen dieser Kinder werden erheblich beeinträchtigt. Zudem lässt sich die Ungleichbehandlung von Kindern und Jugendlichen mit unterschiedlichem Schutzstatus kaum rechtfertigen, weil sie dem Diskriminierungsverbot der Kinderrechtscharta und der Bundesverfassung widerspricht.

Kantone und Bund müssten ihrem verfassungsrechtlichen Auftrag daher stärker nachkommen und die Höhe und den Umfang sozialhilferechtlicher Leistungen für Kinder anpassen, damit sie sich an deren sozialem Existenzminimum orientieren. Dies beinhaltet unter anderem eine Differenzierung der Grundbedarfspauschale für Kinder unterschiedlicher Altersstufen und Leistungen für Kinder in der Asylsozialhilfe, die nicht unter dem sozialen Existenzminimum liegen.

Von: Gülcan Akkaya (HSLU) und Pascal Coullery (BFH)
Bild: Charlein Gracia auf Unsplash
Veröffentlicht: 23. Oktober 2024

Gülcan Akkaya HSLU

Prof. Dr. Gülcan Akkaya

Gülcan Akkaya ist Dozentin und Projektleiterin am Institut für Soziokulturelle Entwicklung und seit 2018 auch Lehrbeauftragte im Masterstudiengang «Soziale Arbeit und Menschenrechte» an der Alice Salomon Hochschule in Berlin. Die Sozialarbeiterin und promovierte Politikwissenschaftlerin war unter anderem von 2008 bis 2019 Vizepräsidentin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR). Zu ihren Schwerpunkten zählen: Grund- und Menschenrechte, Migration, Rassismus.

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