Soziokultur

Das neue Wir: Alle

Das neue Wir: Alle

Soziokulturelle Animation in Coronazeiten 1

Die Corona-Pandemie stellt gerade unser gewohntes Leben auf den Kopf. Bei allen Unannehmlichkeiten können wir in Bezug auf gesellschaftlichen Zusammenhalt etwas lernen aus der aktuellen Situation. Und ich denke, gerade die umfassenden Lockdown-Massnahmen des schweizerischen Bundesrates bieten das Denken über ein «neues Wir» an.

Am 4. März 2020, also gerade mal zwölf Tage vor dem Lockdown, aber aus heutiger Perspektive in einem anderen Zeitalter, verglich der Philosoph Slavoj Zizek, in einem Gastkommentar in der nzz.ch den gesellschaftlichen Umgang mit dem neuen Corona-Virus mit den Trauerphasen, wie sie Elisabeth Kübler-Ross für den individuellen Umgang mit der Diagnose einer tödlichen Krankheit entwickelt hat: zuerst verleugnet man schlicht, dass da etwas ist. Ein neuer Virus? Betrifft vielleicht andere, aber nicht mich. Dann kommt die Wut, oft mit rassistischen Untertönen – die Chinesen essen grausiges Zeug – oder gegen «die da oben» gerichtet, die sich nicht für mich und meine Probleme interessieren. Aber auch die Wut bringt niemanden wirklich weiter. Es folgt das Verhandeln: ok, ich wasche mir nun immer die Hände, höre auf ins Gesicht zu fassen – lustige Videos kursieren in den sozialen Medien von warnenden Gesundheitsfachleuten, die zum Manuskriptblättern den Finger ablecken und Social Distancing empfehlenden Politiker und Politikerinnen, die sich dann die Hand geben – kaufe Toilettenpapier für vierzig Jahre und alle Dosenravioli im Regal. Aber auch das Verhandeln macht das Virus nicht weg. Nun kommt die Phase der Depression und Resignation: Wir werden alle sterben, also kann ich mich auch gleich beerdigen, nichts hat mehr einen Sinn.

Und dann, endlich: das Stadium der Akzeptanz. Akzeptieren bedeutet sich mit der Situation zu arrangieren anstatt an ihr zu verzweifeln. Für jemanden kann das sein, endlich die alten Fotos zu ordnen und sich über die stillen Abende zuhause zu freuen. Jemand anders ist froh, für einige Zeit dem Pendelwahnsinn entronnen zu sein. Und eine dritte Person geniesst die gewonnene Familienzeit und den freien Himmel, der zudem besonders klar erscheint.

Und wie sieht Akzeptanz auf gesellschaftliche Ebene aus? Slavoj Zizek sagt, es gebe zwei Möglichkeiten, mit der Krankheit umzugehen: entweder jede und jeder schaut für sich resp. das eigene Überleben, oder es entsteht eine neue Solidarität. Nur die Historiker und Historikerinnen der Zukunft könnten die Frage beantworten, welche Seite gewonnen habe.

Die Zeit des Lockdowns in der Schweiz war eine, in der das Bewusstsein für andere auf einmal selbstverständliche Bedeutung gewonnen hat. Ob persönlich stark gefährdet oder nicht, alle Menschen in der Schweiz waren aufgerufen, zuhause zu bleiben. Alle. Bitte. Das erste zentrale Wort im bundesrätlichen Verdikt ist das «alle». Das zweite wichtige Wort ist das «bitte», denn es weist darauf hin, dass das «alle» nur in Eigenverantwortung zustande kommen kann. Kein Zwang, kein Befehl, keine Macht kann so stark sein wie die eigene Verantwortung – für alle.

Es wäre schön, wenn dieses Gefühl auch über den Lockdown hinaus in Kraft bleiben könnte. Das Gefühl des Verbundenseins als Menschen. Das «neue Wir», zu dem eben alle gehören, nicht aufgespalten in alt und jung, gesund und krank, arbeitend und Rente beziehend.


von: Simone Gretler Heusser

Kommentare

3 Kommentare

Caroline Rey

Liebe Simone, immer wieder schön, wie du die Themen verbinden und auf den Punkt bringen kannst. Merci herzlich!

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Simone

Danke liebe Caroline!

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Willa Rolf

Sehr gut geschrieben. Ich gebe es zu: ich habe diese Phasen/Stadien schon durchlebt. Irgendwie aber beschäftigt mich schon seit Wochen die fehlende gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Weitsicht im weltweiten Handeln (resp. "lockdownen"). Die Schweiz kann sich - anscheinend - ein momentanes Runterfahren sämtlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens leisten. Wie lange noch? Der Lockdown kostete in sechs Wochen bereits 80 (!!!) Milliarden CHF (so viel wie die gesamten Gesundheitskosten 2018). Wird der BR in vier Monaten noch immer Milliarden zur Verfügung stellen können, wenn dann auch die Auftragsbücher der grossen Industriebetriebe leer sind? Oder die Tourismusbranche ganz viele Menschen nicht mehr beschäftigen kann (will)? Und die drohenden Konkurse vom wirtschaftlichen Rückgrad, den KMUs und den Mikrobetrieben. Und der Rest der Welt? Den allermeisten Ländern geht es finanziell bestimmt nicht so gut wie der Schweiz.

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